Kopf über Wasser. Wolfgang Millendorfer

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Название Kopf über Wasser
Автор произведения Wolfgang Millendorfer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783903184893



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an den Kopf geworfen hat, mitten ins Gesicht. Georg hat zwar nicht geworfen, ist aber der Einzige, der laut auflacht, als das Glas auf dem Kopf des alten Nazis zerplatzt. Georg lacht und hätte erwartet, dass der Alte etwas sagen würde wie »Schwere Artillerie!« – aber er sagt nichts. Mit dem gemeinen Grinsen noch immer im Gesicht fällt er einfach um. Jetzt lacht gar keiner mehr.

      Da liegen sie, friedlich nebeneinander, Grant und der alte Nazi, wie zwei Freunde nach einer langen Nacht. Unter den beiden rinnt Blut hervor. Immer noch sitzen und stehen alle still, sehen dem Blut beim Rinnen zu. Im ersten Moment könnte keiner sagen, aus welchem der beiden das Blut kommt, das fragt sich zunächst auch niemand und niemand sagt ein Wort. Ein »Ähm« ist die erste Reaktion nach langer Zeit, gefolgt von einem Räuspern, dann noch ein Sesselrücken und endlich die Frage: »Ähm, sollten wir nicht einen Arzt rufen?« Es kommt von Georg, der den alten Nazi zwar ebenso hasst wie sein Barbruder Grant und insgeheim davon ausgeht, dass der Alte jener der beiden ist, der blutet, aber mit Sicherheit kann er das auch nicht sagen, und Blut ist eben Blut, und nicht lustig. Das sieht sogar Georg ein, und noch immer rühren sich die zwei auf dem Boden nicht, und Bella nickt und sagt: »Das könnten wir machen.«

      Und weil niemand reagiert, wird Bella lauter: »Ja, dann macht das doch! Wer bin ich hier?! Bin ich eure Königin?« – »Irgendwie schon«, murmelt Willi und sucht in seiner Jacke nach dem Mobiltelefon. Susi greift inzwischen zum echten Telefon, und ein Bargast läuft raus zum Münzsprecher, und während er läuft, holt er ein paar Münzen hervor, und so rufen mindestens drei zugleich die Rettung, die eine Viertelstunde später mit vier Leuten und zwei Tragbahren in der Kantine erscheint, wo Bella und die anderen sich inzwischen vorsichtig und doch halbherzig um Grant und Nazi Hermann gekümmert haben, aber immer noch überall Blut und kaum sichtbare Wunden und kein Wort ist aus den beiden herauszukriegen, also sind am Ende alle – sogar Bella – erleichtert, als eben die Rettung auftaucht mit vier Leuten und zwei Tragbahren, die je zwei von ihnen auf Rollen in die Kantine schieben. Dass jetzt Profis hier sind, sorgt unter den Kantinengästen augenblicklich für Entspannung und für ein kollektives Gefühl von Gleichgültigkeit; die Sache ist erledigt und bald schon werden alle gemeinsam darüber lachen, Grant oder der alte Nazi, je nachdem, wer von den beiden jetzt wirklich blutet, wird dann einen Kopfverband tragen und sich lachend an den Kopf fassen, denn so geht das in der Kantine – man hat Spaß mit den eigenen Fehlern, und Spaß mit denen der anderen, und Spaß gibt es immer genug.

      Aber nein, dieses Mal wohl nicht, denn die Rettungsleute haben die Polizei mitgebracht, und mit den Uniformen schlägt die allgemeine Stimmung wieder in eine allgemeine Anspannung um, denn jetzt sind sie alle Zeugen und sogar zwei Täter unter ihnen, und alle haben es irgendwie genau gesehen und wollen doch nur endlich wieder ihre Ruhe haben und frischen Schaum im Glas.

      »Das wollen wir uns ansehen, haben wir gesagt«, lacht auch die Polizei, und dann sehen sie das Blut auf dem Boden und lachen nicht mehr, greifen an ihre Gürteltaschen und Inspektor Wels zieht den Schreibblock heraus. »Und geht schon los!«, sagt die Polizei, während die Rettungsleute Grant auf die Tragbahre legen – ja, eindeutig, Grant ist der, der blutet, und Nazi Hermann lehnen sie gegen die Schank. Er röchelt ein wenig und beginnt dann sofort wild zu schimpfen: »Dreckiges Dreckspack!« und »Mörder!«, brüllt er. »Na, na, na«, sagt Inspektor Wels und zeigt mit dem Finger auf seine Kollegin und dann auf Hermann. Kollegin Fritz geht vor der Schank in die Hocke und redet auf Nazi Hermann ein.

      Hinter dem Rücken von Inspektor Wels versucht ein Unbeteiligter in aller Stille den Raum zu verlassen, und Georg folgt ihm. Bis zur Tür schaffen sie es, dann fährt Inspektor Wels herum und brüllt: »Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!« Man merkt ihm an, dass er erfreut ist, das endlich wieder einmal brüllen zu können. Und: »Wo soll’s denn hingehen, die Herren?« – »Aufs Klo«, murmelt der Unbeteiligte, und Georg sagt fast die Wahrheit: »Ich will wissen, wie es ihm geht.« Damit meint er Grant, den zwei der Rettungsleute inzwischen auf der Trage hinausgeschoben haben. Die anderen zwei behandeln den alten Nazi und der kreischt noch einmal: »Mörder!« und zeigt auf Georg, worauf Kollegin Fritz aufspringt und zur Tür läuft. »Langsam, langsam!«, wird jetzt auch sie streng, und Georg schreit den alten Nazi an: »Das stimmt nicht!«, und Inspektor Wels greift wieder an seine Gürteltasche.

      So geht es hin und her und jeder Kantinengast wird befragt, und jeder stolpert durch seine eigene Geschichte, wobei alle versuchen, es so zu drehen, als seien Grant und der alte Nazi unglücklich gestürzt oder in einem Gerangel umgefallen oder ausgerutscht oder was weiß ich – blöde Sache eben, und am Ende glaubt keiner dem anderen nur ein Wort. Dass es Bella dabei gelungen ist, sich tatsächlich rauszuschleichen, hat niemand mitbekommen, und als Inspektor Wels fragt: »Wo ist denn eigentlich die Chefin?«, halten mindestens zwei Gäste ihre Bierkrüge vors Gesicht, damit man ihr Grinsen nicht sieht. Einen erwischt Kollegin Fritz beim Grinsen: »Finden Sie das lustig? Was ist so lustig? Wir wollen es auch lustig haben.« – »Nix, nix.« Und so geht es hin und her mit wechselnden Darstellern und Angebrüllten. »Was hast du da? Was versteckst du da?« – »Nichts, nur den Autoschlüssel.« – »Ach so.« – »Also, was ist so lustig? Wie heißen Sie?!« – »Immer nur eine Frage auf einmal.« – »Ich geb dir gleich eine Frage auf einmal, du … du …« Und Willi überlegt kurz, ob er sich in Kollegin Fritz verschauen soll, bleibt dann aber Fräulein Susi treu, die wiederum von Inspektor Wels auffällig oft beobachtet wird, aber bestimmt nur, weil sie ihm verdächtig erscheint.

      »Ich habe nichts gesehen«, lügt Susi, als sie befragt wird, »war da drinnen«, zeigt sie auf den Küchenvorhang. »Und da war kein Lärm, der Sie vielleicht neugierig gemacht haben könnte?« – »Was hier so alles passiert, interessiert mich schon lang nicht mehr.« Inspektor Wels nickt, und auch Susi nickt, und Willi sieht ihnen dabei zu. »Das bringt nichts!«, schnauft Inspektor Wels plötzlich und steckt seinen Notizblock in die Gürteltasche zurück und brüllt: »Ausschwärmen!« – »Wie jetzt?«, fragt Kollegin Fritz. »Na, ausschwärmen eben!« – »Wir beide?« – »Ja, sofort!«, befiehlt Inspektor Wels und schiebt Kollegin Fritz in Richtung Tür. »Sie da, ich da!« – »Alles klar!« Bevor sie loslaufen, fährt Inspektor Wels noch einmal herum und zeigt mit seinem Finger auf jeden einzelnen Bargast und auf Willi und auf Susi: »Wir haben hier eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun Verdächtige. Und wenn ich zurückkomme, sehe ich hier drinnen eure neun …« – »Visagen«, schlägt Kollegin Fritz vor. »Neun Visagen!«, schnauzt Inspektor Wels, und bevor er und Kollegin Fritz ausschwärmen, sagt er, mehr zu sich selbst als zu Kollegin Fritz, und so laut, dass alle es hören können: »Wir sollten so nicht mit den Leuten reden.« Sie nickt und rennt los, durch die Tür in die Eingangshalle, wo sie mit Werner und Marina Antl zusammenstößt. Er nimmt die andere Tür, und als Ersten nimmt er sich Fred vor, der nicht nur vorgibt, vom ganzen Chaos nichts mitbekommen zu haben, denn er hat es wirklich nicht mitbekommen. »Junger Mann«, sagt Inspektor Wels, und dann noch einmal lauter: »Junger Mann!«

      Nachdem Marina Antl Inspektor Wels den Grund ihres späten Erscheinens in der Szene plausibel erklärt hat, unterstützt von Werners Kopfnicken – den Grund nämlich, dass Bellas Kantine eine Insel und Bella selbst die irre Königin derselben sei, und sie beide, die Antls, das eigentliche Königspaar des Hauses, aufgrund dieses ungeschriebenen und doch in Stein gemeißelten Gesetzes gar nichts bemerken hätten können von dem, was sich da so rund um die Schank zugetragen hat, geschweige denn etwas dagegen unternehmen. Außerdem seien sie, die Antls, heute Mittag besonders abgelenkt gewesen – ein Augenzwinkern hier, ein beschämtes Kopfnicken Werners da –, und über kurz oder lang gehe sie beide das, was Bella in ihrer Kantine so treibe und wer da mitmache und schlimmstenfalls zu Schaden komme, auch wenn diese Kantine Teil ihres Hallenbads sei, gehe sie das alles eigentlich überhaupt nichts an. »Verstehen Sie?!« Und der Inspektor nickt, und nachdem sie all das geklärt haben, geht Inspektor Wels leicht verwirrt weiter und taucht in die Gänge ein und verschwindet hinter der nächsten Ecke.

      Zwei Glastüren weiter, auf der anderen Seite der Kantine, im Hallenbad, ist Kollegin Fritz drauf und dran, in Freds Erklärungen verloren zu gehen, wobei dieser nichts zu befürchten hat, weil er von den Ereignissen, vom Tumult, tatsächlich nichts mitbekommen hat, aber gerade deshalb umso motivierter und zugleich verdächtiger erscheint und sich und Kollegin Fritz einen Knoten ins Hirn macht, wonach er auch sie in die Gänge entlässt und selbst ratlos stehen