Unter der Sonne geboren - 2. Teil. Walter Brendel

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Название Unter der Sonne geboren - 2. Teil
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966511872



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Über die Grenze hinweg beugte sie sich nach vorn, um ihren Bruder nach langer Zeit endlich wieder in die Arme zu schließen.

      Doch Philipp zuckte zusammen und wich zurück. Gleichzeitig erinnerte sich Anna, wie anders als in Paris die Sitten in Madrid waren. Sie begriff sofort, dass sie in den Augen ihres Bruders eine unerhörte Vertraulichkeit begangen hatte, die ihn vor seiner Begleitung beschämte. So zog sie sich hastig wieder zurück und nahm ganz unwillkürlich die steife Haltung an, die man sie einst gelehrt hatte und für die man in Frankreich kein Verständnis aufbrachte. „Ich bin glücklich, Sie wiederzusehen, Majestät!“, versicherte sie mit beherrschter Stimme in spanischer Sprache.

      Ihr Bruder stimmte ihr zu. „Viele schwere Jahre liegen hinter uns.“ Er murmelte das Wort „Krieg“ und wurde dann ganz unerwartet von einer heftigen Erregung mitgerissen. „Es war ein Werk des Teufels!“, rief er. „Wir haben es nie so gewollt.“

      Anna nickte. „Ja, Majestät!“, stimmte sie zu. „Ein Werk des Teufels. Doch am Ende hat Gott gesiegt.“

      In diesem Augenblick hörte man Hufgetrappel. Alle starrten zum Fenster und fingen an zu lachen, als sie Ludwig erkannten, der vorbeiritt. Maria Theresia errötete so sehr, dass alle meinten, gleich müsse sie umsinken.

      Die Anspannung, die bisher den Raum beherrscht hatte, löste sich. Die Franzosen lachten und scherzten, und sogar die Spanier erwachten aus ihrer Erstarrung.

      Plötzlich klopfte es an die Tür, laut und energisch. Wie abgeschnitten brach der Lärm ab. Ein Edelmann, der eingeweiht war, öffnete die Tür und meldete mit lauter Stimme einen „unbekannten Fremden“. Alle wussten genau, wer dieser Fremde war. Doch mit großem Vergnügen machte man das Spiel mit und fragte die anderen, wer das da draußen nur sein könne. Noch nie zuvor hatten sich Franzosen und Spanier so gut miteinander verstanden. Alle amüsierten sich und waren neugierig, wie es nun weitergehen würde.

      Der Edelmann trat beiseite, damit der unbekannte Fremde gesehen werden konnte. Mit lautem Oh! und Ah! heuchelte man Verwunderung, als man entdeckte, dass es der französische König selbst war, der jedoch ohne einzutreten auf der Schwelle stehen blieb.

      Maria Theresias Gesichtsfarbe wechselte erneut. Sie war nun auf einmal ganz blass und zitterte. Da ihr die Regeln des Zeremoniells zur zweiten Natur geworden waren, wusste sie, dass sie auf keinen Fall sprechen durfte. Doch sie hätte ohnedies nicht gewusst, was sie sagen sollte.

      Ihr Vater musterte Ludwig mit strenger Miene. Dann schmunzelte er plötzlich. „Ein schöner Schwiegersohn!“, sagte er anerkennend zu Anna. Er nickte zufrieden. „Wir werden viele Enkelkinder haben.“

      Anna lachte erleichtert und strahlte vor Stolz und Glück. „Das werden wir, Majestät. Ganz bestimmt.“ Sie wandte sich an Maria Theresia. „Mein liebes Kind“, sagte sie zärtlich, „was halten Sie von dem unbekannten Fremden?“

      Wieder errötete Maria Theresia. Hilfesuchend blickte sie auf ihren Vater.

      Er stand ihr bei. „Das ist nicht der richtige Augenblick für eine solche Frage!“, erklärte er streng. Die Franzosen murrten enttäuscht. Doch Philippe, der neue Herzog von Orleans, wollte nicht, dass sein Bruder ohne Antwort entlassen wurde. „Liebe Schwester“, sagte er mit seinem schelmischen Lächeln, „sagen Sie mir bitte: Wie gefällt Ihnen die Tür?“

      Maria Theresia hielt den Atem an. Ohne Zweifel spürte sie, dass alle auf ihre Antwort warteten. Alle, auch ihr junger Gemahl, der ihr so schön erschien wie kein anderer Mann auf der Welt. So vergaß sie für einen Augenblick auf jedes Zeremoniell und sogar auf die Meinung ihres Vaters. „Die Tür ist sehr schön, mein Bruder!“, flüsterte sie und wagte sogar ein winziges Lächeln. „Sie gefällt mir sehr gut.“

      Gegen Abend verließen die königlichen Gäste die Insel wieder. Im Boot der Katholischen Majestät nahm man eine wertvolle frühe mit, die Ludwig an seine Braut geschickt hatte. Sie war voll mit Juwelen und anderen kostbaren Überraschungen. Philippe von Orleans hatte sie überbracht. Nachdem er sie Maria Theresia zu Füßen gestellt hatte, wartete er darauf, dass seine Schwägerin sie öffnete. „Dürfen wir Ihre Freude miterleben, liebe Schwester?“, fragte er lächelnd.

      Doch Maria Theresia hatte sich wieder auf das besonnen, was man sie gelehrt hatte. Sie schüttelte den Kopf und erklärte leise, das wäre nicht passend. Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihren Hofdamen, sich um den Transport der Truhe zu kümmern. Enttäuscht kehrte Philippe auf die französische Seite zurück. Er konnte nicht ahnen, mit welcher übermütigen Freude seine Schwägerin am Abend ihre Präsente auspackte. Sie legte die Schmuckstücke an, drehte sich vor dem Spiegel und schwärmte ihren Damen vor, wie wunderbar ihr Gemahl sei und wie sehr er sie lieben müsse, um ihr solche Geschenke zu machen.

      Die ganze Nacht konnte sie nicht schlafen. Bis weit nach Mittag blieb sie in ihrem Bett liegen, während ihr Vater und ihr Gemahl nun ganz offiziell auf der Fasaneninsel zusammentrafen, um vor dem Abschied noch einmal den gemeinsamen Frieden zu bekräftigen.

      In der Mitte des Konferenzsaals hatte man einen niedrigen Tisch aufgestellt, die eine Hälfte in Spanien, die andere in Frankreich. Mit gemessenen, würdevollen Bewegungen knieten die beiden Könige davor nieder und legten ihre rechten Hände auf zwei völlig gleiche Kruzifixe. In abwechselnder Rede und jeder in seiner eigenen Sprache schworen sie einander Frieden, Bündnistreue und ewige Freundschaft. Ihre beiden Sprachen verwoben sich melodisch ineinander. Die eine schien die Schönheit und den Wohlklang der jeweils anderen noch zu erhöhen und zu verstärken.

      Die Stimme eines alten Mannes und eines ganz jungen. Ein Spanier und ein Franzose - vor kurzem noch Feinde, doch nun zur Versöhnung bereit.

      Am nächsten Morgen trennte man sich für immer. Anna weinte die bittersten Tränen ihres Lebens. „In unserem Alter dürfen wir nicht mehr darauf hoffen, dass uns das Schicksal ein zweites Wiedersehen schenken wird!“, flüsterte sie. Diesmal wagte sie nicht, sich ihrem Bruder zu nähern. Nun aber tat er es. Er umarmte sie und nannte sie seine „geliebte Schwester“. Damit raubte er ihr vollends die Fassung.

      Auch Maria Theresia war einer Ohnmacht nahe. Drei Mal warf sie sich weinend vor ihrem Vater auf die Knie. Drei Mal hob er sie wieder zu sich hoch und umarmte sie. Dann drehte sie sich um und ging fort - einen Augenblick lang ganz allein und einsam. Königin Anna sah es und eilte ihr nach. Tröstend legte sie den Arm um die Schultern ihrer Schwiegertochter und führte sie zum Boot. Niemand konnte besser wissen als sie, was Maria Theresia in dieser Stunde verlor.

      Die Katholische Majestät schaute seiner Schwester und seiner Tochter nach und blickte dann auf sein schwarz gewandetes Gefolge, das untadelige Haltung von ihm erwartete. So wandte auch er sich um und kehrte zu seinem Boot zurück. Während es auf das spanische Ufer zufuhr, blickte er hinüber auf die andere Seite der Bidassoa, wo sich das Boot mit seiner Tochter dem französischen Ufer näherte. Er konnte die Endgültigkeit dieses Anblicks kaum ertragen, doch er hatte nicht die Kraft wegzusehen. Da drüben saß seine Tochter, und wie er sie kannte, weinte sie wohl.

      Doch das war nun nicht mehr seine Angelegenheit. Von jetzt an konnte er sie nicht mehr trösten oder beschützen. Philipp wusste, dass Maria Theresia noch in dieser Stunde unter Aufsicht ihrer Schwiegermutter und der hohen Damen des französischen Hofes alle ihre Kleider ablegen musste. Nicht das kleinste Stück Stoff aus ihrer Heimat durfte sie mitnehmen, keine Wäsche, keinen Schal, kein Taschentuch. Die Infantin von Spanien gab es nicht mehr. Es gab nur noch die Königin von Frankreich, die man aus Tradition wahrscheinlich genauso einkleiden würde wie einst seine Schwester, als sie ihrem Gemahl nach Frankreich folgte: in eine prachtvolle, leuchtend rote Atlasrobe, die mit Gold und Silber bestickt und mit Juwelen in schweren Goldfassungen behängt war.

      Als man Philipp diese Kleidung damals beschrieben hatte, hatte er sich geschämt. „Das ist das Gewand einer Dirne!“, hatte er gerufen und mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Auch diesmal wollte er am liebsten nicht daran denken, dass sein bescheidenes, gehorsames Kind, dem bisher seine gottgeschenkte goldene Haarpracht als Schmuck genügt hatte, so liederlich herausgeputzt wurde. Der heimliche Zorn auf die Franzosen, den er fast schon überwunden geglaubt hatte, überkam ihn wieder.

      Zugleich