Название | Freudenberg |
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Автор произведения | Carl-Christian Elze |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783942375580 |
Gerd kam mit einem dicken Mann zum Auto zurück, der ununterbrochen grinste. Freudenberg und die Mutter stiegen aus und Gerd stellte ihnen Herrn Dobek vor, der sich verbeugte und der Mutter einen Handkuss gab. Freudenberg konnte sehen, dass es nicht bei einem Luftkuss blieb, sondern dass Dobeks Lippen sekundenlang breit und feucht auf dem Handrücken der Mutter lagen wie zwei Regenwürmer. Dann gab Dobek auch ihm die Hand, sie war schwer und behaart.
»Scheen, dass Sie da sind. Ist ganz scheenes Wetter hier«, sagte Dobek und ging lachend zur Einfahrt hinüber. Man konnte sehen, dass er einen schweren Hüftschaden hatte und beträchtlich schwankte. Bei jedem Schritt geriet sein massives Stammfett mit in Schwingung, sodass Freudenberg befürchtete, er könnte jeden Moment umfallen. Dobek nestelte an einem Vorhängeschloss herum und öffnete die Toreinfahrt zu den Stellplätzen. Freudenberg sah eine kleine Videokamera, die in etwa zwei Meter Höhe an der frisch verputzten Hauswand befestigt war. Auf eine Videokamera hatte Gerd besonderen Wert gelegt, erinnerte sich Freudenberg, denn bei jeder Übernachtungsanfrage hatte er als Erstes wissen wollen, ob es auch bewachte Parkplätze gebe. Letzten Endes hatte er sich für Dobek entschieden, der ihm mehrmals geschworen hatte, dass er die sichersten Parkplätze von ganz Międzyzdroje habe.
Gerd stieg wieder ins Auto ein und ließ den Motor an, während Dobek mit den Armen zu rudern begann und dabei verschiedene Zeichen gab, um Gerd beim Einparken zu helfen. Als Gerd mit dem Wagen durch die Toreinfahrt rollte, war er sofort gefangen. Der Parkschlauch war kaum breiter als der Wagen selbst, links stand unverrückbar die gelbe Hauswand und rechts ein grüner Maschendrahtzaun. Gerd öffnete die vorderen Fenster und klappte hastig die Außenspiegel ein, während Dobek rief: »Bis Ende durch, kommen noch andere deitsche Autos, aber vorsichtig!«
Freudenberg sah, wie Gerd davor zurückscheute und nicht noch tiefer in die Falle gehen wollte, es aber trotzdem tat. Der Mutter wegen. Damit sie sich nicht zu schämen brauchte. Immer müsse sie sich schämen, hatte Freudenberg ihn schon oft zur Mutter sagen hören, und das alles nur, weil sie keinen ausreichenden Willen besäße, auch keinen ausreichenden Willen, Freudenberg zu erziehen.
Obwohl man ihm ansah, dass er schon jetzt die größte Lust hatte, mit Dobek über diese völlig unzureichenden, geradezu beschissenen Stellplätze zu diskutieren, rollte Gerd zwanzig Meter tief in die Parkfalle hinein. Er wollte aussteigen, aber die wenigen Zentimeter zwischen Fahrertür und Hauswand reichten nicht aus. Er versuchte es über die Beifahrertür. Sein Rücken bog sich kräftig durch. Auch der Zaun wurde an der Stelle, wo Gerd sich herausstemmte, durchgebogen. Dobek lächelte anerkennend und rief noch einmal beruhigend: »Alles Video, kann nichts passieren!«
Gerd kroch mit verwüstetem Blick aus dem Auto und kämpfte sich zur Kofferraumklappe vor. Ohne ein Wort zerrte er das Gepäck heraus und starrte wütend auf den Schotterweg. Die Mutter reichte ihm ein Zellstofftaschentuch für die nasse Stirn, aber er wollte es nicht und schüttelte trotzig den Kopf. Schließlich riss er sich zusammen und drückte auf die Fernbedienung am Schlüssel. Das Auto verriegelte sich mit einem Klickklick.
Dobek war schon ins Orion vorausgeschwankt. Als sie eintraten, saß er in einem verglasten Rezeptionskasten und lächelte gutmütig durch eine Scheibe mit Sprechloch. Freudenberg blieb stehen und schaute sich im Foyer um. An den Wänden hingen Stillleben, ausschließlich Früchte, gemalt mit dicken, frohen Farben. Er sah die Halogenstrahler in der abgehängten Decke, die auf die Bilder gerichtet waren, um sie am Abend anzustrahlen. Im Moment schien nur die Mittagssonne herein, auf den gefliesten Boden, der kalt und weiß aufblendete. Als wäre man in einem Schlachthof gelandet, dachte Freudenberg. Er ließ sich in eine Sitzecke fallen und rote Kissen klappten und schwappten auf seine Schenkel wie Fleischstücke. Gleich neben dem Eingang standen verchromte Untertöpfe, aus denen lange, schlauchartige Gewächse wucherten, die ihn an Darmschlingen erinnerten. Freudenberg wandte seinen Blick ab und schaute wieder zur Rezeption, wo Gerd die Zimmerschlüssel von Dobek entgegennahm. Dobeks Hände wirkten im Vergleich zu seinem riesigen Körper viel zu klein, wie Puppenhände, dachte Freudenberg. Gerd drehte sich zu ihm um und gab ihm ein knappes Zeichen. Freudenberg stand auf und griff nach dem Mutterkoffer. Er hatte ihn schon vom Auto zur Rezeption getragen, an der gelb verputzten Hauswand und den Beeten mit dickblättrigen Pflanzen vorbei, sodass es ihm jetzt nur folgerichtig vorkam, ihn auch bis zum bitteren Ende zu tragen, bis in die Zimmerhölle hinein. Gerd ging voraus in Richtung Treppe und Freudenberg folgte ihm. Er trug den Mutterkoffer und seine Reisetasche bis in den zweiten Stock hinauf.
Die Treppe und die Gänge waren mit weichem, rötlichgrauem Teppichboden ausgelegt. Es lief sich wie auf … Freudenberg fiel wieder nur Fleisch ein, Gehacktes: Es gab dieses Durcheinander aus Blut- und Fetttönen in der Faser. Und es roch seltsam in diesem Orion, nicht nach Fleisch, sondern nach chemischen Stoffen, ungezügelten Reinigungskräften. Als ob man in diesem Hotel eine Menge zu reinigen hätte. Gleichzeitig bemerkte Freudenberg eine ungewöhnlich hohe Zahl von Fluchtwegeschildern überall an den Wänden. Aber vielleicht kam ihm die Zahl auch nur so hoch vor, weil er so oft hinschauen musste und immer dieselben Schilder sah, auch das war möglich, dachte er. Der polnische Strichmann unterschied sich kaum von dem deutschen, den er noch aus der Schule kannte – ein weißer Strichmann, der auf einem grünen Hintergrund einer weißen Türfläche entgegenrannte –, aber die Situation hier im Treppenhaus schien gefährlicher zu sein. Wie alle Strichmänner rannte auch der polnische die Wände entlang voller Hoffnung, dass hinter der weißen Tür nicht ein noch größeres Grauen auf ihn wartete, als das, vor dem er gerade davonlief. Doch hier war die Angst spürbarer, bildete sich Freudenberg ein, war das Grauen, das die Verfolgung aufgenommen hatte, greifbarer – obwohl es wie immer unsichtbar blieb.
Gerd war stehen geblieben und schloss die Zimmertür auf, dann betraten sie zu dritt den Raum. Die Mutter löste sich von ihnen und stieß als Erstes ins Bad vor, um dort alles lautlos zu inspizieren. Als sie wieder auftauchte, sah sie erleichtert aus. Anscheinend war alles gerade noch sauber genug gewesen. Freudenberg fühlte sich abgestoßen von ihrem zufriedenen Gesicht und stellte den Koffer neben das rostfarbene Sofa am Fenster. Durch die Gardinen kroch weiches Licht. Das Zimmer gefiel auch Gerd, er spazierte umher und pfiff durch die Zähne. Nach einer Weile blieb er vor Freudenberg stehen, boxte ihm leicht auf die Brust und meinte: »Jetzt besuchen wir dich!« Freudenberg nickte, aber die Mutter schüttelte den Kopf und sagte, sie packe lieber erst aus und komme nach.
Freudenberg machte sofort kehrt und trat zurück in den Flur. Dann lief er zu seinem Zimmer. Der Teppichboden war unverändert Fleischmasse, nur schien sie ihm jetzt noch tiefer, noch massiger zu sein, er kam kaum vorwärts. Als er sich umdrehte, sah er Gerd, der ihm mühelos folgte.
Im Zimmer angekommen, pfiff Gerd erneut durch die Zähne und tigerte umher. Er klopfte auf einen kleinen Fernseher, der an einem Metallgestell an der Wand befestigt war. »Immerhin«, meinte er, »vielleicht gibt es ja einen deutschen Sender.« Freudenberg zuckte mit den Schultern und sah über dem Bett ein Stillleben hängen. Diesmal waren es Blumen mit roten, igelartigen Blütenköpfen, Dahlien. Freudenberg trat näher heran und sah jetzt deutlich den Schriftzug Marianna D. – D. wie Dobek – und rührte sich nicht. Er musste nicht wie seine Mutter zuerst ins Bad stürzen, um zu entscheiden, ob er sich wohlfühlen konnte, er blieb einfach in der Mitte des Raumes stehen und wusste es sofort.
Freudenberg ging langsam zum Fenster, das zur Straße zeigte und zog die Gardinen zurück. Draußen schaukelten die Platanenblätter im Wind, der von der Ostsee herüberstrich, und in großer Höhe wurden Eiswolkenfetzen über den Himmel geschleift. Schließlich trat er auf einen lang gezogenen Balkon, der über die gesamte Straßenseite des Orion aufgespannt war und in den alle Zimmer einmündeten. Er lief ein paar Schritte und sah plötzlich seine Mutter durch die Scheibe. Er konnte nicht genau erkennen, was für ein Gesicht sie gerade machte, wahrscheinlich war es noch immer ein vom Toilettenanblick seliges. Freudenberg tat so, als ob er sie nicht gesehen hätte und lief zügig vorbei.
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