Die letzte gute Tat. Ralf Peter Paul

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Название Die letzte gute Tat
Автор произведения Ralf Peter Paul
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991078951



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hatte die Friseurin nie kennengelernt und was er von ihr wusste, hatte Thea ihm erzählt. Sie war alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter. In ihren Gesprächen ging es meistens um Männerbekanntschaften, deren Namen sich von Friseurtermin zu Friseurtermin änderten.

      „Aber was“, grübelte Behrens, „kann Thea ihr gesagt haben, das die Friseurin dazu bringt, mich derart zu beschimpfen? Unsere Beziehung ist doch harmonisch und ohne nennenswerte Streitigkeiten.“

      Er ließ dieser Frage nicht viel Zeit, sich in seinen Gedanken auszubreiten. Ihm wurde bewusst, dass dies jetzt unbedeutend war. Allein die Tatsache, dass es immer noch kein Lebenszeichen von Thea gab, sollte im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen.

      „Lebenszeichen“, schoss es Behrens durch den Kopf. „Vielleicht kann sie keins geben, weil sie bewusstlos im Krankenhaus liegt?“

      Eilig suchte er die Telefonnummer des Klinikums in Bad Doberan heraus und rief dort an. Die Vermittlung leitete ihn an die Notaufnahme weiter.

      „Guten Abend, bitte entschuldigen Sie den späten Anruf, aber ich vermisse meine Verlobte, Frau Thea Schneider. Ich wollte nur sichergehen, dass ihr nichts zugestoßen ist“, stammelte Behrens ins Telefon.

      Die Frau an der anderen Seite der Leitung kannte diese Art von Anrufen und reagierte routiniert.

      „Bitte noch einmal den Namen der Vermissten und wann soll der Unfall passiert sein?“

      „Der Name ist Thea Schneider und ob es ein Unfall war, weiß ich nicht. Könnten Sie bitte nachschauen, ob meine Verlobte heute eingeliefert wurde?“, bat Behrens ungeduldig.

      „Bin schon dabei“, antwortete die Frau trocken. „Keine Frau Schneider hier.“

      Behrens bedankte sich und legte den Hörer des Festnetzanschlusses zur Seite, wollte er doch auf seinem Handy jederzeit erreichbar sein.

      „Jetzt noch einmal bei Thea anrufen und danach die Polizei, um sie als vermisst zu melden. Doch was werden die sagen?“, fragte er sich.

      Das hatte er schon zig Male in Filmen gesehen, wie zum Beispiel in „Frantic“ mit Harrison Ford aus dem Jahre 1988. „Warten Sie erst einmal 24 Stunden ab, vielleicht wollte Ihre Frau nur für ein paar Stunden alleine sein oder Ähnliches. Die werden nur warme Worte für mich haben und heute gar nichts mehr unternehmen“, war sich Behrens sicher.

      Er entschied sich, die Polizei erst morgen anzurufen und wollte so lange wach bleiben, wie es nur ging. Als er das letzte Mal auf die Uhr schaute, war es nach zwei, dann schlief er auf der Couch ein.

      Die Vermisstenanzeige

      Gegen 8 Uhr wachte er auf, musste sich kurz orientieren und betätigte dann sofort die Wahlwiederholung auf seinem Handy.

      Diesmal kam nicht einmal mehr die Ansage des Anrufbeantworters, sondern „Der Teilnehmer ist nicht zu erreichen“.

      Behrens hielt kurz inne. Er ermahnte sich, in seinem Kopf keine Spekulationen zuzulassen, sondern die Ereignisse rational zu betrachten. Aber auf diese Situation war er nicht vorbereitet. Wie sollte er auch? Hier an der Küste war sein bisheriges Leben ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Sah man von der Begegnung mit Thea ab, waren seine Tage und Wochen eher ereignislos als aufregend. Er vermied es, auffällig zu werden und schob sich selten in die erste Reihe.

      In den Sommermonaten hatte er gelegentlichen Kontakt mit Urlaubern, die die Häuser neben ihm bewohnten und ihn um Auskunft nach Freizeitmöglichkeiten oder den besten Restaurants baten. Behrens war ein freundlicher Touristenführer, drängte sich jedoch nie auf. Hin und wieder wurde er auch von den wechselnden Nachbarn zum Grillen eingeladen. Die Einladungen nahm er gerne an, zumal sich daraus in den ersten Jahren auch der eine oder andere Sommerflirt ergeben hatte. Nichts Festes, nur an der Oberfläche, ohne dass sich daraus eine tiefere Beziehung entwickeln konnte.

      So geschah es, dass ihn einmal die Tochter eines älteren Ehepaares dazu einlud, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Er fuhr mit ihr nach Rerik zum Salzhaff, wo es leckere Fischbrötchen gab und die Preise noch nicht so unverschämt hoch waren wie in Kühlungsborn. Einmal begleitete er sie am Abend zu einer Tanzveranstaltung im Konzertgarten-Ost. Später verbrachten sie noch einige Momente am Strand, wo sie Zärtlichkeiten austauschten. Doch für mehr als eine Sommerliebelei reichte es nicht.

      Statt jetzt die Polizei telefonisch zu verständigen, entschloss er sich, die Wachstation im Ortsteil West aufzusuchen. Diese war von Montag bis Freitag von 10 bis 12 Uhr besetzt. Die Beamten hätten sicher eine ganze Reihe von Fragen an ihn und da wäre die persönliche Anwesenheit die bessere Vorgehensweise. Außerdem könnte er auch gleich ein aktuelles Foto von Thea mitnehmen.

      Vorher wollte er noch seine Mutter anrufen. Sie war 69 Jahre alt und lebte in Berlin-Reinickendorf in einer Dreizimmerwohnung.

      Er war Einzelkind und das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war sehr vertrauensvoll, geprägt durch ein intensives Miteinander, eine offene Kommunikation und einen hohen Anspruch an Loyalität. Sie war seine Verbündete und Ratgeberin von Kindheitan.

      Als Behrens’ Vater vor sechs Jahren plötzlich starb, war dies für seine Mutter und ihn ein gewaltiger Schicksalsschlag. Die drei waren gut aufeinander abgestimmt. Es gab eine klare Rollenverteilung der konservativen Art. Der Vater war Mess- und Regeltechniker bei Siemens und ehrenamtlich beim Technischen Hilfswerk tätig. In seiner Freizeit widmete er sich dem Sportschießen im Schützenverein. Die Mutter war nicht berufstätig. Sie erledigte den Haushalt, übernahm die Erziehung des Sohnes und war zuständig für alle sonstigen organisatorischen Aufgaben.

      Den Sommerurlaub verbrachten alle drei meistens gemeinsam an der See. Vor der Wende auf der Insel Föhr und auf Amrum. Nach dem Mauerfall bereisten sie die östliche Ostsee. Sie wechselten jährlich ihre Unterkünfte zwischen Usedom und Wismar.

      „Hallo Mama, Thea ist gestern nicht nach Hause gekommen“, sagte Behrens.

      „Habt ihr euch gestritten, warst du schon bei der Polizei?“, fragte seine Mutter.

      „Nein, wir haben uns nicht gestritten, es war alles in Ordnung mit uns, so wie immer. Ich fahre gleich zur Polizeistation“, antwortete Behrens, „ich rufe dich danach gleich an, Mama.“

      Er zog sich warm an und stieg auf sein Fahrrad, welches er zu dieser Jahreszeit kaum benutzte und bereits vor einigen Tagen im Geräteschuppen hatte unterstellen wollen.

      Als er kurz vor 10 Uhr die Polizeistation betrat, beklagte ein Urlauber den Verlust seiner Strandtasche. Er verzichtete auf eine Anzeige, wollte einfach nur seinen Ärger loswerden und dabei erwähnen, dass ihm so etwas auf der Ferieninsel Borkum noch nie passiert sei.

      Als Behrens an der Reihe war, kam er gleich zur Sache.

      „Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Meine Frau ist gestern nicht nach Hause gekommen. Ihr Name ist Thea Schneider. Hier ist ein Foto von ihr.“

      „Herr Schneider“, sagte der Polizist und wurde gleich von Behrens unterbrochen.

      „Mein Name ist Florian Behrens, wir sind nicht verheiratet. Frau Schneider ist meine Verlobte.“

      „Dann benötige ich jetzt die vollständigen Daten Ihrer Verlobten und den genauen Zeitpunkt, wann Sie sie das letzte Mal gesehen haben. Das Foto können Sie mir geben“, bat der Polizist.

      „Wir wohnen hier im Neubaugebiet, Bürgermeister-Haase-Straße 40. Frau Schneider ist am 15.8.1973 geboren, circa 168 Zentimeter groß, sehr schlank und die Haare wie auf dem Foto“, erklärte Behrens. „Sie hat gestern, wie jeden Mittwoch, das Haus um kurz vor 15 Uhr verlassen, um im Grand Sea Hotel Wellness zu machen. Anschließend wollten wir uns um 18 Uhr im Hotel Strandmöwe zum Essen treffen. Als sie nicht erschien, bin ich zum Grand Sea gegangen, wo sie allerdings niemand gesehen hat.“

      Der Polizist unterbrach mit leicht erhobener Hand: „Herr Behrens, Frau Schneider ist noch keine 24 Stunden abwesend …“

      Behrens fiel ihm mit erregter Stimme ins Wort: „Das musste ja kommen; wie oft habe ich diese Sätze schon