Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

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Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



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      Über dieses Buch

      1939 – Landesausstellung: Unweit des Festgeländes in Zürich wird an einem Spätsommerabend ein Säugling in einer Kartonschachtel aufgefunden. Das Findelkind kommt zur städtischen Fürsorge und wird Jahre später von einem kinderlosen Ehepaar aus der Innerschweiz adoptiert.

      Der Bub verbringt seine Kindheit auf einem Bauerngut – dem «Loch» – in Bürglen am Lungernsee. Im Zentrum dieser Kinderwelt steht Ätti, der schwadronierende Grossvater, der das Bätziwasser liebt und die Feste feiert, wie sie fallen. Lebenslustig ist auch der Vater, er arbeitet im Holzbau und ist viel unterwegs. Mutter ist fromm und empfängt den Dorfkaplan bei Schinken und Rauchwurst zu erbaulichen Gesprächen. Dass der Kleine dem Adoptivvater gleicht, sorgt für Gespött, darüber gesprochen wird nicht. Des Rätsels Lösung liegt im Nachlass der Mutter.

      Unzimperlich und oft hart ist das Leben in der kleinen Gemeinde. Nüchtern, unverblümt und doch mit Wärme erinnert sich Jeannot Bürgi an seine Kindheit in dieser katholisch-barocken Welt der Vierzigerjahre.

      Jeannot Bürgi, geboren 1939 in Zürich, wächst in Bürglen OW auf. Nach der Kunstgewerbeschule Luzern freier Bildhauer in Holland, ab den Achtzigerjahren in der Schweiz, in Frankreich und Griechenland. 1986 mit dem ersten Küsnachter Kulturpreis ausgezeichnet. Er starb 2011 im Kanton St. Gallen.

      Jeannot Bürgi

      Lochhansi

      oder Wie man böse Buben macht

      Eine Kindheit aus der Innerschweiz

      Limmat Verlag

      Zürich

      Für meine Kinder

      Prolog

      Ich liege im Gras. Ich starre in den Himmel. Dort oben ist alles in Bewegung. Während ich daliege, bewegen sich dort Kontinente. Und unter mir rascheln Welten und gehen ihren Geschäften nach.

      Du stehst auf der Wiese. Du wetzt die Sense, ein grosser Schatten bist du vor meiner Sonne. Du mähst das Gras mit kräftigem Schwung. Während du mähst, pfeifst du ein Lied. Ich kenne es. Der Text heisst: «So bleib bei mir …» Ich werde aber nicht bleiben.

      Ich weiss auch, wie das Lied weitergeht: «… und geh nicht fort, mein Herz ist ja dein Heimatort.» Das tönt kitschig. Es ist gelogen, es ist nicht wahr. Und stimmen tut es auch nicht.

      Wenn es wahr wäre, hättest du mir dein Herz geöffnet. Du hättest ihn mir gezeigt, den Heimatort. Das aber hast du nicht getan. Lass gut sein, ich kann damit leben.

      Es wird immer etwas zwischen uns stehen. Eine Flasche mit Most auf der Bank vor dem Gaden, ein Stück Käse, das du mir zuschiebst, eine offene Frage, die man nicht anschneiden kann mit dem Sackmesser wie das Brot, das wir uns teilen. Vom gleichen Teller werden wir nie essen, aus dem gleichen Glas nie trinken, und das ist gut so.

      Ob du nun mein Vater bist oder nicht, interessiert mich nicht mehr. Das ist mir nicht mehr wichtig. Früher war das anders. Alle Väter haben Kinder, aber nicht alle Kinder haben einen Vater. Ich hatte einen, das muss genügen. Mir genügte es auch.

      Kindheitserinnerungen

      Das ist wie das Rühren im Bodensatz einer klaren Brühe. Wer weiss, was da alles zum Vorschein kommt, was da aufgewirbelt durch Raum und Zeit saust. Alte Verkrustungen, Vernarbungen, Ablagerungen von Jahrzehnten, die den Panzer eines Menschenalters gebildet haben.

      Ich war meinen leiblichen Eltern kein Wunschkind. Mit dieser Feststellung und Erkenntnis bin ich sicher nicht allein, kein Sonderfall. Trotzdem, eine Frage beschäftigte mich ein Leben lang: Warum hat mich meine Mutter ausgesetzt, in einer Kartonschachtel beim Müll am Strassenrand entsorgt? Ich dachte, ich sei schon längst darüber hinweg, es mache mir überhaupt nichts aus, darüber zu sprechen, nachzudenken. Jetzt entdecke ich, nachdem ich siebzig Jahre alt geworden bin und ein ganzes, reiches Leben hinter mir habe, dass es mir noch immer etwas ausmacht, dass da noch immer die Frage im Raum steht, dieses «Warum», auf das ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe.

      Meine Erklärung ist einfach und auf der Hand liegend: Ich war ihr Last und Störung, ich passte nicht in ihr Leben, sie hatte sich das so nicht vorgestellt. Ein Gof, das fehlte gerade noch, damals Ende der dreissiger Jahre, mitten in Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, mit dem Krieg vor der Tür. Das Leben damals war schon allein schwer genug, ein Kind ein Esser mehr, eine Sorge dazu, ein Hindernis, Verantwortung und Kosten. Sie musste über die Runden kommen, Anschaffen hiess das in ihrem Fall, für sich und wahrscheinlich auch für ihren Zuhälter. Sicher war sie jung, leichtsinnig und oberflächlich, schliesslich war es ihr egal, was mit dem geschah, was sie da in die alte Schachtel stopfte. Abfall eben, den man los sein will.

      Wahrscheinlich war sie auf einem Bauernhof aufgewachsen, sie war es gewohnt, mit anzusehen, wie man den Wurf neugeborener Kätzchen auf den Mist warf oder in der Jauchegrube ersäufte, das war doch alltäglich, ganz normal. Was solls, ich mag nicht weiter darüber nachdenken. Ich weiss nicht, wie diese Frau war, weiss nicht, wie sie gelebt hat, weiss nur, dass sie einsam und alt geworden im Altersheim verstorben ist. Ich habe mir nie ein Bild von ihr machen können, habe nie ein Foto von ihr gesehen, ich habe nicht einmal ihr namenloses Grab besucht. Es sei ein Ge­mein­schaftsgrab, sagte mir die Leiterin des Altersheims, sie sei auf Gemeindekosten bestattet worden, die Armenpflege sehe in diesem Falle nur ein Gemeinschaftsgrab vor.

      Ich ging nicht hin zum Friedhof, nicht weil ich ihr grollte, was hatte ich der Frau, die mich geboren hat, schon zu grollen, was zu verzeihen, war ich denn Gott? Ich mochte einfach nicht. Lass gut sein, dachte ich und fuhr nach Hause. Das Leben hat es doch gut mit mir gemeint. Habe ich denn nicht alles bekommen was ich mir gewünscht habe, und sogar noch einiges mehr? Ich kann mich wahrlich nicht beklagen. Und wenn ich das nun so aufschreibe, meine ich das auch so.

      Komisch ist nur, dass meine ersten Erinnerungen Erinnerungen an Unfälle sind.

      Kindheit ist nicht etwas, woran ich mich als Zeit erinnere. Für mich ist Kindheit Ereignis, eine Folge von Geschichten, einige schön, andere weniger. Hier leicht und luftig, dort schwer und dumpf. Für alles suche ich Wörter, die zur Sache passen, meinem Erlebnis möglichst nahe kommen. Zu meiner Kindheit passt das Wort «Muhheim», es sagt alles aus. In ihm finden sich Gerüche, Töne und Formen. Mein Staunen auch, und wenn man genau hinsieht, findet sich darin sogar meine Angst. Eigentlich finde ich es schade, dass ich diese Kindheit nicht mit meinen ungelenken kindlichen Worten umschreiben kann. Doch die kindlichen Worte habe ich schon lange vergessen, und erzählen kann ich nur das, was mir an Erinnerung geblieben ist.

      Vor «Muhheim» gab es noch etwas, für das ich aber kein Wort finde. Es sind hier nur Gerüche, die geblieben sind, Figuren, die aus dem Nebel der Geschichte auftauchen, verschwommene Konturen, Geräusche und Sprachfetzen. Der Duft der würzigen Käseküchlein aus der Küche der Mama Früh oder das Plätschern des Wassers im Brunnen auf dem Bullingerplatz. Ein Drängen, Stossen und Schubsen der Menschen in der Bäckeranlage vor dem Volkshaus. Wars ein Streik, eine 1.-Mai-Feier oder nur ein Volksauflauf, die Sammlung zu einem Demonstrationszug? Überall standen Soldaten herum, Worte schwirrten durch die Luft wie verängstigte Vögel.

      Dreikäsehoch der ich war, mein weiches, weisses Körpergeschiebe fortbewegend wie ein vierbeiniges Amphibium, doch schnell und neugierig jeden Winkel, jeden Spalt erforschend, gelangte ich in einen Raum voll Sonnenlicht und süssen Duft. «O Jesses Gott, was machst du da?»

      «Mas tu da», sagte ich, mit schwerer Zunge die ungewöhnlichen Vokale formend, indem ich meinen Fleischberg mühsam zu voller Grösse aufrichtete. Ich hielt mich fest am Zipfel des weissleinenen Tischtuchs, derweil die bunte Schnabelkanne mit Kaffee, die Tassen, Tellerchen und Krüglein in irrem Tanz ihr Gleichgewicht verloren und klirrend auf den Boden purzelten. «Mas tu da», gurgelte ich triumphierend und plumpste rücklings in den Scherbenhaufen.

      «Was machst du da, Herrjehminee», schalt mich die Stimme, und Verzweiflung klang daraus, derweil die Weibsperson, die solches von sich gab, mit schwerem Leib sich dunkel vor die Sonne schob und zeterte, der Kaffee schwarze Flecken auf