Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Stefan Gesmann

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Название Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit
Автор произведения Stefan Gesmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783849781996



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die Standortgebundenheit der Dienstleistung: Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen die Distanz technisch überbrückt wird (insbesondere: Onlineberatung), ist eine Anwesenheit von Leistungserbringer und Leistungsnutzer an einem Ort erforderlich. Soziale Dienstleister müssen daher Maßnahmen ergreifen, um die räumliche Distanz zwischen dem Nachfrager und dem Anbieter zu überwinden.

       Einbeziehung des Nachfragers/Nutzers in die Dienstleistungserstellung

      In der Sozialen Arbeit sind die Kunden bzw. Nutzer Mitproduzenten der Dienstleistung; die Erstellung der Dienstleistung erfolgt koproduktiv. Beteiligen die Nutzer sich nicht in einem gewissen Maß aktiv, kann die Leistungserbringung nicht gelingen; sie läuft ins Leere. Eine reine Anwesenheit des Klienten und sonstige Passivität bei einer Beratung oder Therapie führt weder zu einem Beratungsprozess noch zu einem Erfolg; nur bei aktiver Beteiligung des Leistungsadressaten kommt die Dienstleistung tatsächlich zustande. Es geht also nicht nur um das Herstellen einer gewissen räumlichen Nähe, sondern insbesondere um die Überwindung einer sozialen Distanz – dies zumindest so weit, dass anknüpfungsfähige Kommunikationen entstehen, die das notwendige Maß an Koproduktionsbereitschaft aufseiten des Nutzers entstehen lassen. Da die Bereitschaft und die Fähigkeit des Leistungsadressaten zur Koproduktion nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, bedarf es besonderer Bemühungen zur Herstellung einer Bereitschaft und Aktivierung einer koproduktiven Haltung aufseiten der »Leistungsempfänger«.

       Individualität

      Soziale Dienstleistungen sind nur begrenzt standardisierbar. Sie müssen variabel sein für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nachfrager und weisen daher in ihrer Ausführung individuelle Qualitäten auf. Eine »Leistung von der Stange« ist nicht möglich bzw. wenn eine solche Orientierung in einer Organisation Platz greift, wäre dies mit erheblichen Qualitätsdefiziten verbunden. Damit geht eine Unsicherheit der Nachfrager einher, ob bzw. in welcher Weise die angebotene Dienstleistung ihren Erwartungen entspricht, was wiederum auf den Faktor »Vertrauensgut« verweist. Aus der Individualität sozialer Dienstleistungen resultiert die Erfordernis, eine flexible Leistungserstellung zu ermöglichen und die weitgehende Dysfunktionalität von Standardprogrammen zu berücksichtigen.

       2.2.2Folgen für das Steuerungshandeln

      Verdeutlicht man sich diese Charakteristika von sozialen Dienstleistungen und deren Folgen für die Interaktionsgestaltung, so erscheinen zwei Folgen für das Steuerungshandeln in Organisationen der Sozialen Arbeit zentral:

      der hohe Grad von Unsicherheit in den Anforderungen, der in den Handlungsprogrammen der Organisation zu verarbeiten ist, und – damit einhergehend –

      die Dominanz von Zweckprogrammen, die jedoch nur wenig Unsicherheit zu absorbieren vermögen.

      Das Phänomen der Unsicherheit sowohl in der Interpretation der Anforderungen als auch in der Konzipierung von Bearbeitungsperspektiven resultiert vor allem daraus, dass bei sozialen Dienstleistungen mit »Personen« gearbeitet werden muss. Personen sind gemäß Klatetzki (2010, S. 13)

      »zu Selbstaktivierung bzw. Selbstreferenz fähig. Damit ist gemeint, dass Individuen auf der Grundlage ihrer jeweils subjektiven Situationsinterpretation handeln und folglich in der Lage sind, Interventionen zu neutralisieren. Kurz gesagt: Personen mit einem freien Willen lassen sich nicht kausal beeinflussen.«

      Es bleibt also unsicher, wie bestimmte methodische Impulse aus Handlungsprogrammen der Organisation von den Personen verarbeitet werden und ob ähnliche Impulsgebungen überhaupt bei verschiedenen Personen ähnlich ankoppelungsfähig sind und zu bedeutsamen Kommunikationen im Sinne der Programmintentionen werden. Dabei sind nicht nur die kommunikative Aufnahme und Verarbeitung der Interventionen unsicher: Bereits die Interpretation der Ausgangs- oder Problemsituation, auf die mit Interventionen geantwortet werden soll, verbleibt in der Regel bei der Hypothese. Denn was eine Ausgangssituation für welche beteiligte Person bedeutet, kann je nach Interpretation verschiedener Beteiligter und je nach »praktischer Ideologie« (zu diesem Begriff siehe Klatetzki 1998, S. 63 ff.; kurz erläutert bei Merchel 2015a, S. 121 f.), mit der Fachkräfte an die Situation herangehen und diese sich interpretativ für ihr Handeln verfügbar machen, vielfältige Varianten aufweisen.

      Durch Unsicherheit geprägte Anforderungen an die Leistungserstellung stellen die Organisation vor ein zentrales Problem: Sie muss trotz der Unsicherheiten eine einigermaßen verlässliche und mit präsentierbaren positiven Wirkungen verbundene Leistungserstellung gewährleisten, und zwar als eine Organisationsleistung, welche die Umwelt und die Leistungsadressaten relativ unabhängig von personenbezogenen Zufälligkeiten und Eigenheiten des Personals erwarten können. Über Handlungsprogramme (Konzepte, methodisch strukturierte Vorgehensweisen, Verhaltensvorschriften, Standardisierungen etc., aber auch informell wirkende Regeln und Gewohnheiten, Routinen) versucht die Organisation, Unsicherheit zu absorbieren und die Leistungserstellung stärker kalkulierbar zu machen. Konditionalprogramme, bei denen ein kausaler Bezug zwischen handlungsauslösenden Ereignissen und bestimmten Folgehandlungen hergestellt wird, sind in der Regel untauglich, weil die »Auslösebedingungen des Handelns in der Vergangenheit (liegen): Für relativ bekannte Bedingungen liegen relativ erprobte Routinen für Entscheidungen vor« (Lambers 2015, S. 33). Somit verbleiben Zweckprogramme: Verfahrensweisen, bei denen ein Entscheidungsrahmen mit entsprechenden Handlungsoptionen für jeweils spezifisch zu definierende Zwecke benannt und als Orientierungskorridor gesetzt wird. Aber solche Zweckprogramme vermögen nur begrenzt Unsicherheit zu absorbieren, denn »bei ihnen liegen die Auslösebedingungen des Handelns in der Zukunft« (ebd.): Man entscheidet über den wahrscheinlich angemessenen Zweck und über darauf ausgerichtete Handlungsweisen, mit denen vermutlich oder wahrscheinlich der angezielte Zweck auch im spezifischen Einzelfall realisiert werden kann.

      Die Folge ist, dass soziale Dienstleistungen notwendigerweise inhomogen sind – und zwar auch in gewissen Grenzen innerhalb einer Organisation –, weil durch die Unsicherheit und durch die unverzichtbare aktive Mitwirkung von Individuen mit ihrem jeweiligen Eigensinn auch bei ähnlichen Zweckprogrammen jeweils unterschiedliche Dienstleistungen entstehen – was mit dem einen Leistungsadressaten gut funktioniert, kann mit dem nächsten wiederum ins Leere gehen oder gar gegenteilige Wirkungen erzeugen (Dunkel 2011, S. 188). Soziale Dienstleistungen müssen situativ und individuell konstituiert werden und sind daher nur begrenzt standardisierbar: am ehesten in ihren administrativen Rahmenbedingungen, kaum jedoch in ihrem interaktiven Kern. Bei »front-line organizations« (Smith, zit. nach Klatetzki 2010, S. 17), bei denen das Entscheidende in den vielfältigen Interaktionen zwischen dem »Frontpersonal« und den Leistungsadressaten geschieht, das für das Leitungspersonal nicht unmittelbar, sondern vor allem über Mitteilungen des Personals zugänglich ist, sind die wesentlichen Handlungsmodalitäten bei der Leistungserstellung nur begrenzt und kaum intentional durch Managementhandeln steuerbar. Zentrale Vorgaben, z. B. über Standardisierungen mit entsprechenden Verhaltensvorschriften, stoßen an Grenzen gegenüber den sich jeweils immer wieder neu ergebenden und zu bewältigenden Situationsanforderungen, die in Abstimmungsprozessen bearbeitet werden müssen. Dies erfordert insgesamt einen Steuerungsmodus, bei dem die untere Hierarchieebene wegen ihrer Problemwahrnehmungs- und Problembearbeitungsnähe eine große Bedeutung einnimmt und die beim Management daher einbezogen werden muss.

      Die zentrale Stellung nimmt das Personal ein, das durch entsprechende Maßnahmen des Personalmanagements eingeworben, qualifiziert und kompetent gehalten sowie an die Organisation gebunden werden muss: Die Leistungsfähigkeit der Organisation hängt wesentlich ab von einem Personalstamm an »Arbeitskräften, die ihre Tätigkeit wissenschaftlich, vergleichsweise autonom und im Rekurs auf einen besonderen ethischen Kontext« ausübt (I. Bode 2012, S. 153). Umgekehrt muss die Organisation »ein gewisses Maß an Vertrauen in die Kompetenzen der (angestellten) Mitglieder und in den Berufsethos der zentralen Funktionsträger« aufbauen (ebd., S. 157). Dabei darf ein solches Vertrauen nicht blind proklamiert werden, sondern muss auf einer Basis der von der Organisation geprüften und kontinuierlich entwickelten Kompetenz und Motivation des Fachpersonals (»Personalentwicklung«) erfolgen.