Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Stefan Gesmann

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Название Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit
Автор произведения Stefan Gesmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783849781996



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ein Systemtheoretiker würde bestreiten, dass Menschen in Organisationen arbeiten und Menschen diejenigen sind, die tagtäglich Entscheidungen innerhalb einer Organisation ermöglichen. Um aber besser verstehen zu können, wie diese Entscheidungen getroffen werden, und um – hierauf basierend – den Versuch zu unternehmen, steuernd auf ein Organisationssystem Einfluss zu nehmen, kann es äußerst vorteilhaft sein, zwischen dem sozialen System »Organisation« und dem psychischen System »Mensch« zu differenzieren (wohlwissend, dass der Mensch natürlich eine Kopplung weiterer autopoietischer Systeme darstellt).

      Wie schon bei der Differenzierung zwischen Körper und Geist gilt es auch bei der Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systemen, zunächst deren unterschiedliche Operationsmodi zu beachten: Während soziale Systeme ihre Autopoiese dadurch aufrechterhalten, dass Kommunikationsakte an Kommunikationsakte anschließen, gewährleisten psychische Systeme ihre Autopoiese dadurch, dass sie Gedanken »rekursiv in einem geschlossenen Netzwerk ohne Kontakt mit der Umwelt reproduzieren« (Baraldi, Carsi u. Esposito 1997, S. 142). Das Überleben eines psychischen Systems ist also davon abhängig, dass stets neue Gedanken an vorherige Gedanken anschließen.

      Sowohl soziale Systeme als auch psychische Systeme agieren hierbei operational geschlossen. Sie beziehen sich somit einerseits primär auf sich selbst, sind aber zugleich stets darauf angewiesen, »die Umwelt als Anlassgeber [für] Veränderungen zu nutzen, um sich nicht wie ein Plattenspieler in einer kaputten Rille selbstreferenziell zu verfangen« (Laßleben 2002, S. 73). Hätte der Mensch keinen Zugang zu seiner Umwelt, würden sich die Gedanken stets nur im Kreis drehen, eine ideale Voraussetzung, um verrückt zu werden. Da Organisationen über keine Sinnesorgane verfügen, mithilfe derer sie in der Lage wären, Umweltreize aufzunehmen, sind sie zwingend auf ihre Organisationsmitglieder angewiesen. Nur diese sind in der Lage zu fühlen, zu reflektieren und wahrzunehmen (z. B. dass ein Projekt gerade zu scheitern droht). Wenn Menschen ihre Wahrnehmung und ihre Gefühlen verbalisieren, sie diese also in die Kommunikation bringen (beispielsweise indem eine Mitarbeiterin bei der Teamsitzung von ihrem schlechten Gefühl in Bezug auf ein Projekt berichtet), wird das soziale System mit Fremdreferenz angereichert und unter Entscheidungsdruck gesetzt. (Beispielsweise muss innerhalb des Teams darüber entschieden werden, wie mit der Mitteilung der Kollegin umgegangen wird.) Durch das Treffen von Entscheidungen (beispielsweise den Auftrag der Projektgruppe noch einmal zu konkretisieren, die Projektlaufzeit zu verlängern oder den Projektleiter zu entlassen) wird nicht nur die Autopoiese, sondern im Idealfall auch der Erfolg des Projekts gewährleistet.

      Den Menschen in die Umwelt des sozialen Systems zu verlagern bedeutet somit nicht, ihn gering zu schätzen, wie es bisweilen Kritiker den Vertretern der Systemtheorie vorwerfen. Vielmehr wird hiermit dem Umstand Rechnung getragen, dass Menschen nie vollständig Teil des sozialen Systems werden. (Dies ist auch gut so, denn ansonsten wäre das soziale System eine totale Institution.) Menschen stehen vielmehr ausschließlich als »Identifikationspunkte der Kommunikation« (Kneer u. Nassehi 2000, S. 87) zur Verfügung.5

      Zusammenfassend übernehmen die Mitglieder der Organisation als Träger von Entscheidungen einen überlebenswichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Autopoiese eines Organisationssystems. Dennoch bleiben soziale und psychische Systeme analytisch betrachtet stets Umwelten füreinander. Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass durch eine Verortung des Menschen in die Umwelt von Organisationen eine Abwertung desselben erfolgt, und um zugleich zu verhindern, dass Umwelt zu einer Restekategorie wird, in der alles Mögliche angesammelt werden kann, erscheint es sinnvoll, mit Blick auf die Umwelt von Organisationen zwischen einer inneren und einer äußeren Umwelt zu unterscheiden (Abb. 3): Aufgrund der besonderen Bedeutsamkeit der Organisationsmitglieder werden diese nachfolgend als innere Umwelt bezeichnet. Die Leistungsadressaten, die rechtlichen Normen und gesellschaftlichen Werte, die politischen Akteure sowie andere wesentliche Interessenträger (engl. »stakeholder«; wie z. B. kooperierende oder konkurrierende Organisationen) können hingegen der äußeren Umwelt zugeordnet werden.

       Abb. 3: Organisationen und ihre Umwelten

       1.3.4Von der Zweck- zur Systemrationalität

      Organisationen müssen aus systemtheoretischer Perspektive als autopoietische Systeme betrachtet werden, die sich über die Herausbildung von Kommunikationsmustern von einzelnen Organisationsmitgliedern unabhängig machen. Organisationen können folglich nur ihre eigene Melodie spielen und ihre eigene Musik hören (vgl. Willke 1999, S. 116). Sie lassen sich daher nicht wie eine Trivialmaschine linear-kausal von außen steuern. Vielmehr verfügen sie über »Myriaden von Möglichkeiten« (Willke 2007, S. 25), um Interventionen (wie z. B. Steuerungsabsichten von Leitungskräften) abzubiegen, umzuleiten, umzudeuten, zu verzögern oder schlicht zu ignorieren. Akzeptiert man diese Thesen, dann wird offensichtlich, dass ein solches Verständnis von Organisationen dem in Kapitel 1.2 skizzierten zweckrationalen Organisationsverständnis diametral entgegengesetzt ist.

       Funktionen von Zwecken in Organisationen

      Wenn sich Organisationen also nicht zweckrational verhalten, ihr Verhalten vielmehr jeweils stark vom inneren Gemütszustand abhängig ist, dann bedarf es auch einer Neuinterpretation hinsichtlich der Bedeutsamkeit von Zwecken in Organisationen. Nach Ansicht von Luhmann erfüllen Zwecke in Organisationen zwei zentrale Funktionen:

      Zum einen erfüllt die Zwecksetzung ein »Scheuklappenprinzip« (Luhmann 1973, S. 47). Ähnlich wie bei Pferden das Sichtfeld mithilfe von Scheuklappen eingeschränkt wird, führen Zwecke auch in Organisationen dazu, dass diese nur einen sehr begrenzten Teil ihrer Umwelt wahrnehmen. »Das System gewinnt auf dem Bildschirm seiner Zwecke für das tägliche Verhalten ein stark vereinfachtes Umweltbild und eine Kooperationsgrundlage, die rasche Verständigung gestattet.« (Luhmann 1973, S. 192.) Eine Organisation der Sozialen Arbeit, die den Zweck verfolgt, Menschen mit Behinderung Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, wird daher kaum wahrnehmen, wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge innerhalb der eigenen Stadt dringend versorgt werden müssen. Genauso wenig wird möglicherweise die psychosoziale Beratungsstelle für Flüchtlinge wahrnehmen, wie es um die Situation von Menschen mit Behinderung bestellt ist. Zwecke fokussieren die organisationale Aufmerksamkeit und tragen so maßgeblich zur Reduktion von Komplexität bei.

      Zum anderen sollen Zwecke die Motivation der Mitglieder sichern (vgl. Martens u. Ortmann 2006, S. 447). Eine Einrichtung der stationären Kinder- und Jugendhilfe, die sich den Zweck setzt, Kindern und Jugendlichen einen geschützten Rahmen zu bieten, innerhalb dessen sie tragfähige Zukunftsperspektiven entwickeln können, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit solche Sozialarbeiter als Organisationsmitglieder gewinnen, die sich mit diesem grundsätzlichen Zweck identifizieren; deren Motivation also auch darin begründet ist, Kindern und Jugendlichen trotz schwieriger Umstände eine förderliche Entwicklung zu ermöglichen.6

      Zusammenfassend dienen die Zwecke einer Organisation einerseits der Komplexitätsreduktion (Scheuklappenprinzip) und anderseits der Aufrechthaltung von Motivation. Beides ist vonnöten – und hier zeigt sich nunmehr der übergeordnete Zweck von sozialen Systemen – um das Überleben der Organisation zu gewährleisten. Nur wenn das soziale System »Organisation« einen überwiegenden Anteil der Umwelt radikal ausblendet, also nicht auf alles reagieren muss, was irgendwie innerhalb der Organisationsumwelt passiert, kann es autopoietisch seine Systemgrenze aufrechterhalten. Hierfür ist die Organisation zugleich auf ihre Organisationsmitglieder (innere Umwelt) angewiesen, die sich immer wieder aufs Neue bereit erklären müssen, ihren Beitrag zur Autopoiese (der Ermöglichung von Entscheidungen) zu leisten. Eine regelmäßige (und adäquate) Entlohnung erweist sich hierbei als probates Mittel, um jene Motivation bei den Organisationsmitgliedern auch dann aufrechtzuerhalten, wenn deren Identifikation mit den originären Zwecken der Organisation zu schwinden droht.