Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Stefan Gesmann

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Название Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit
Автор произведения Stefan Gesmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783849781996



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Familienhilfe (SPFH) zu installieren, muss daher nicht zuvor noch mit den Kollegen aus dem Jobcenter, dem Ausländeramt oder dem Pflegekinderdienst besprochen werden, sondern lediglich innerhalb der kollegialen Fallberatung mit den Kollegen thematisiert werden. Zugleich reicht es nicht aus, dass die Kollegen im Team diese Entscheidung richtig finden. Damit diese Entscheidung organisationale Relevanz hat und somit eine Handlung auslöst, muss der Vorgesetzte (z. B. die Teamleitung) der Entscheidung zustimmen.

       Personal

      Innerhalb der klassischen Betriebswirtschaftslehre wird das Personal einer Organisation in der Regel lediglich als Mittel zum Zweck, nicht aber als Struktur einer Organisation betrachtet (Kapitel 1.2). Hierbei wird übersehen, dass in Organisationen nicht nur über Personal entschieden wird, sondern dass Personalentscheidungen auch wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen innerhalb der Organisation darstellen (vgl. Kühl 2011, S. 107). So macht es beispielsweise einen bedeutsamen Unterschied (für zukünftige Entscheidungen), ob die neu zu besetzende Stelle des Jugendamtsleiters durch einen Juristen oder einen Sozialarbeiter besetzt wird. Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Stelle des Assistenten der Geschäftsführung einem »Greenhorn« Anfang zwanzig übertragen wird oder einer berufs- und lebenserfahrenen Mittfünfzigerin. Neben der Einstellung von Personal kann innerhalb einer Organisation auch über den Austritt von Personal indirekt Einfluss auf zukünftige Entscheidungen genommen werden. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Entlassung von Personen. Wenn der Vorstand einer Erziehungsberatungsstelle deren Leiter vor die Tür setzt, weiß jeder innerhalb der Organisation, welche Art von (Leitungs-)Entscheidungen unerwünscht ist und demnach zukünftig wahrscheinlich nicht mehr so getroffen werden sollte. Auch Formen der internen Versetzung – sei es in Form einer Beförderung oder Ruhigstellung – können als Entscheidungen mit weitreichenden Auswirkungen für nachfolgende Entscheidungen betrachtet werden (vgl. Luhmann 2006, S. 287).

      Programme, Kommunikationswege und Personal lassen sich als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen. Programme, Kommunikationswege und Personal werden daher auch als entscheidbare Entscheidungsprämissen bezeichnet.

      Ähnlich wie innerhalb der klassischen Betriebswirtschaftslehre zwischen formaler und informaler Organisation unterschieden wird, kann auch aus einer systemtheoretischen Perspektive zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Entscheidungsprämissen differenziert werden (vgl. ebd., S. 240). Unentscheidbare Entscheidungsprämissen zeichnen sich dadurch aus, dass Sie – ähnlich wie Programme, Kommunikationswege und Personal – im Sinne einer Prämisse wirksam werden, also zukünftige Entscheidungen beeinflussen. Im Gegensatz zu entscheidbaren Entscheidungsprämissen entziehen sich unentscheidbare Entscheidungsprämissen einer direkten Beeinflussung (beispielsweise durch Leitungskräfte). Als bedeutsamste unentscheidbare Entscheidungsprämisse gilt die Kultur einer Organisation. In ihr bündeln sich die Normen und Werte einer Organisation, die – abseits der Formalstruktur – maßgeblich Einfluss darauf nehmen, wie innerhalb einer Organisation entschieden wird (Kapitel 5).

      Zusammenfassend können sowohl die entscheidbaren als auch die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als Leitplanken für den Fluss der Entscheidungen innerhalb einer Organisation interpretiert werden (Abb. 2). Wenngleich diese Leitplanken die einzelne Entscheidung nicht zu determinieren vermögen, kann über die Gestaltung von (entscheidbaren) Entscheidungsprämissen dennoch Einfluss auf zukünftige Entscheidungen genommen werden.

       Abb. 2: Entscheidungsprämissen als Leitplanken für Entscheidungen (verändert nach Boos u. Mitterer 2014, S. 53)

       1.3.3Und wo bleibt der Mensch? Zur Rolle der Organisationsmitglieder

      Bis jetzt wurde dem Leser zugemutet, kommunizierte Entscheidungen als Elemente einer Organisation zu betrachten. Dies widerspricht vordergründig dem alltäglichen Bild von Organisationen. Eine Beratungsstelle besteht schließlich aus Beratern, ein Jobcenter aus Fallmanagern und ein ASD eines Jugendamtes aus den ASD-Mitarbeitern. Auch die klassische Betriebswirtschaftslehre hat sich lange Zeit darauf berufen (und tut dies bisweilen immer noch), dass die Angestellten und Arbeiter die Elemente des Systems »Unternehmen« sind, die dann zu Subsystemen (Abteilungen, Divisionen o. Ä.) zusammengefasst werden (vgl. Simon 1997, S. 119).

      Ein solches – stark auf den Menschen fokussiertes – Bild von Organisationen erhält allerdings erste Risse, wenn man feststellt, dass Organisationen zum einen in der Lage sind, ihre Organisationsmitglieder zu überleben, und zum anderen nicht zusammenbrechen, wenn sie sich von einem Teil ihrer Organisationsmitglieder – freiwillig (z. B. durch den Eintritt in das Rentenalter) oder unfreiwillig (z. B. durch Kündigung) – verabschieden müssen. Zudem müssen auch die Vertreter der klassischen Betriebswirtschaftslehre anerkennen, dass sich Organisationen »in einem Prozess der Emergenz von den individuellen Ausgangspunkten unabhängig machen und dabei Systemeigenschaften produzieren, welche aus den Eigenschaften der Elemente (Personen, Handlungen) nicht mehr erklärbar sind« (Willke 1999, S. 55). Die etwas abgedroschene Phrase, Organisationen seien mehr sind als die Summe ihrer Teile, beschreibt jene emergenten Phänomene, die sich nur eingeschränkt erklären lassen, wenn Organisationen lediglich als Ansammlung von Menschen betrachtet werden, die sich im Kollektiv der Erreichung organisationaler Zwecke verschreiben.

      Systemtheoretische Annahmen geben Hinweise, um sowohl den emergenten Charakter von Organisationen zu erklären als auch deren Fähigkeit, sich in gewisser Weise von ihren Mitgliedern »unabhängig« zu machen. Hierzu wird das klassische Verständnis hinsichtlich der Beziehung zwischen Menschen und Organisationen allerdings auf den Kopf gestellt, da Menschen der Umwelt von sozialen Systemen und damit auch der Umwelt von Organisationen zugeordnet werden (vgl. Zauner 2007, S. 152). Dies mag zunächst abstrakt und möglicherweise auch befremdlich klingen, da sich insbesondere Organisationen der Sozialen Arbeit doch gerade eben dadurch auszeichnen, dass sich deren Mitarbeiter nicht selten hochgradig mit den Zielen der Organisation identifizieren und sich voll und ganz in die Organisation einbringen. Menschen als Teil der Umwelt einer Organisation zu betrachten ist somit erklärungsbedürftig.

      Verständlicher wird eine solche theoretische Zumutung, wenn zunächst einmal konstatiert wird, dass sich im Menschen eine Vielzahl von eigenständigen – autopoietischen – Systemen befindet, etwa »das organische System, das Immunsystem, das neurophysiologische System und das psychische System –, die sich zwar wechselweise beeinflussen, in ihrem Operieren aber überschneidungsfrei agieren. Alle diese Prozesse lassen sich schlicht nicht zu einer (autopoietischen) Einheit ›Mensch‹ zusammenfassen« (Groth 2013, S. 88). Dies ist der Grund, warum diejenige, die Magenschmerzen hat (organisches System), nicht zwingend verrückt werden muss (psychisches System), dies ist aber zugleich auch der Grund, warum derjenige, der Angst oder das Gefühl hat, verliebt zu sein (psychisches System), durchaus an Herzrasen oder übermäßiger Schweißproduktion (organisches System) »leiden« kann. Organische und psychische Systeme operieren also jeweils autonom, aber eben nicht autark. Beide sind auf ihre Umwelt angewiesen, und beide sind zugleich füreinander Umwelt. Eine wechselseitige Beeinflussung ist daher möglich, aber nur in dem Sinne, dass das eine System das andere im Zuge einer strukturellen Kopplung irritieren4, nicht aber determinieren kann. Körper (organisches System) und Geist (psychisches System) können daher aus einer analytischen Perspektive als jeweils eigenständige autopoietische Systeme und deswegen als gegenseitige – zugegebenermaßen höchst relevante – Umwelten betrachtet werden. Beobachter nehmen sie aber als Einheit in Form des Menschen wahr. Dass es unter Umständen dennoch hilfreich sein kann, sich der analytischen Differenzierung zu vergewissern, zeigt sich beispielsweise beim Umgang mit psychosomatischen