Flügelschlag für Flügelschlag. Franka Unger

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Название Flügelschlag für Flügelschlag
Автор произведения Franka Unger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991075424



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Vor uns lagen nur noch eine unbeleuchtete Straße durch den Wald und ein Berg in Richtung Anhöhe. Doch gleichgültig wie dunkel, gleichgültig wie steil und gleichgültig wie kalt, von nun an war es unsere Nacht und alles andere spielte keine Rolle mehr. Der Gedanke, dass es so wenige Stunden bis zum Morgen waren, machte mich schwermütig. Umso mehr kostete ich jeden einzelnen Moment aus. Leise rieselten auf unserem gemeinsamen Weg Schneeflocken bedächtig zu Boden, jede einzelne nur für uns. Alles war wie verzaubert.

      Nachts, unterwegs

      Ich hatte erfahren, dass du an diesem Abend auch dabei sein wirst und alle wussten, worauf das hinausläuft, inklusive uns. Immer, wenn ich wusste, dass du dabei sein wirst, stieß ich erst später zu der Gruppe. Ich hätte es nicht ertragen, eine der Ersten zu sein und vor den Blicken aller anderen auf dich warten zu müssen. Ich hätte meine Aufregung kaum verbergen können, also blieb ich immer so lange wie möglich allein, war aufgeregt und kam erst, wenn alle da waren. „Möchtest Du was trinken?“ „Ja gern.“ Musik, laute Gespräche, viele Stimmen durcheinander, doch wenn wir uns im selben Raum befanden, war es in mir still. Solange du da warst, war ich auch ganz bei mir. Es gab so viel, mit dem ich innerlich zu kämpfen hatte, alles, was außerhalb geschah, ging an mir vorüber. Irgendwann brachen wir dann von unserem Treffpunkt alle gemeinsam auf, meistens hatten wir ein Ziel: Tanzen!

      Leichtsinn kommt von Leichtigkeit. Wir haben uns leicht gefühlt, unbeschwert. Wild, frei, rebellisch, feierwütig. Enge Jeans, tiefe Ausschnitte, duftend nach Fuel for Life und Haarspray, munter und hellwach, wenn andere schliefen. Die Musik in jeder Ader, zuckend im Rhythmus, wippend im Takt. Die Augen riesengroß und glänzend im Stroboskoplicht. Unsere Körper erhitzt und verschwitzt. Bei jeder Drehung ließ ich meine Haare über meine Schultern schwingen. Dauerhaftes Lächeln auf den Lippen. Wieder ein Abend voller Spannung, Neugier, Spaß und Ausgelassenheit. „Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein, ohne dich fahr ich heut Nacht nicht Heim, ohne dich komm ich heut nicht zur Ruh. Das, was ich will, bist du.“ Dieses Lied erklingt auf der Tanzfläche und du singst es mir zusätzlich zärtlich in mein Ohr. „Danke, ich will ihn natürlich auch!“, dachte ich mir immer.

      Grinsen, Lachen, Zwinkern, verstohlene Blicke, ein paar Getränke, schüchternes Umfassen der Taille, Blitze voller Energie, die meinen Körper bei jeder kleinen Berührung durchströmten. Ich zehrte davon. Nebel auf der Tanzfläche, das Spiel mit den Eiswürfeln beginnt. Jagen, Necken, Zielen, die Eiswürfel schmelzen schnell auf der erhitzten Haut und in der heißen Luft der Diskothek. Meine Lippen berühren das Glas, du fixierst dich ganz auf sie, schaust zu, wie ich trinke und meine Zunge danach um meine Lippen herum leckt. Es macht dich wahnsinnig. Du kochst innerlich. Spiel, Satz und Sieg. Endlich gehört sie wieder uns allein, diese Nacht. Was ist das bloß jedes Mal für eine Eigendynamik, die da entsteht? Selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht dagegen ankämpfen, keine Chance, hoffnungslos verfallen. Bei jedem Lied haben wir den Text auswendig im Kopf und er wird sich wohl für den Rest unseres Lebens eingeprägt haben. Kichern, ein paar Zigaretten, Gespräche, wieder verstohlene Blicke. Dieses Lied gehört mir. Mein Körper bewegt sich im Takt, weich und sanft. Ich schaue dich dabei an, die ganze Zeit, provokant. Frech von mir, denn es gibt dir den Rest. Dieses Spiel nimmt kein Ende. In langen Gängen verschwindest du und tauchst wieder auf, doch dabei spiele ich gerade Verstecken. Ein klein wenig Panik steigt in uns auf, wenn wir den Blickkontakt verlieren. Doch worin bestünde sonst die Herausforderung? Unser Ziel ist dasselbe. Also darf ein bisschen Spielen vorher schon erlaubt sein. Jedes blinkende, bunte Licht, jeder noch so schnelle Bass, alles allein für uns.

      Wenn wir uns trafen, in irgendwelchen Bars, waren wir immer sehr nervös, ganz gleich ob das Treffen zufällig oder verabredet war. In der Öffentlichkeit stand etwas zwischen uns, was auch immer es war, es fühlte sich häufig wie der breiteste und tiefste Abgrund an. Nervosität und zugleich schüchterner Rückzug. Obwohl wir uns auch gleichzeitig immer innerlich nah waren, als ob wir tief in den anderen Blicken könnten. Die gleichen Gedanken, die identischen Worte, dieselben Gefühle, einerlei, ob Angst oder Zuneigung. Anziehen, Wegstoßen, Anziehen, Wegstoßen. Wir hatten dieses Spiel schon fast perfektioniert. Doch je mehr wir versuchten, uns zu widersetzen oder uns zu verschließen, umso mehr spielten wir verrückt. Verstohlene Blicke, Wortverlust und sogar umgestoßene Getränke gab es bei uns nicht selten. Egal wo wir aufeinandertrafen, wir wussten, was daraus wieder und wieder entstehen würde. Doch trotzdem überraschte uns das Feuer, das wir dabei hinterließen. Alle Sinne geschärft, unsere Nasen rochen Fuel for Life, unsere Ohren hörten „Zombie“, unsere Zunge schmeckte Pfefferminz und unsere Augen sahen in ein Spiegelbild des eigenen Ichs.

      Nachts, ankommen

      Wir steigen verschwitzt und halb nüchtern durch die Kälte der Nacht in das Auto. Zusammengequetscht auf der Rücksitzbank. Meine Wangen noch errötet vom endlosen Tanzen, meine Haare gewellt von der hohen Luftfeuchtigkeit. Drei Uhr, Schwermut, nur noch so wenig Zeit, bis auch diese Nacht wieder zu Ende gehen wird.

      Mein Blick auf das Telefon verrät mir, an welcher Adresse ich aus dem Auto steigen muss. Deine Hand sucht auf der dunklen Rücksitzbank nach meiner, nur ganz leicht. Kein festes Drücken, nur eine zarte Berührung, ein Kontakt, nur kurz geben wir der Sehnsucht nach. Keiner im Auto merkt etwas davon. Doch diese Kraft, die wir zusammen ausstrahlen, ist allgegenwärtig und beeindruckt alle. Keiner, der uns gesehen hätte, hätte sich je getraut, ein Wort darüber zu verlieren. Dafür war unsere Verbindung einfach schon immer zu stark. Wir haben damit nicht nur uns erstaunt, sondern auch alle um uns herum. Die Autofahrt, diese Spannung, das Leuchten meines Displays. Hör auf damit, mich noch nervöser zu machen. In Kurven, die das Auto fährt, bin ich stocksteif, angespannter Körper, ja nicht fallen lassen, ja nicht mehr berühren als nur die Hand, Spannung beibehalten, das macht es interessanter. „Du riechst gut“, lese ich auf meinem Display und denke mir „Du auch!“. Kurzes Checken im Rückspiegel, die Frisur- zerzaust, aber gut, Make-up- sieht noch gut aus, Augen- hellwach. Das Auto bleibt stehen. Tür auf, gute Nacht, war schön, „tschau“ und bis zum nächsten Mal. Die Tür schlägt zu und das Auto fährt um die Ecke, die Scheinwerfer verschwinden. Die Straße ist wieder dunkel. Die Kirchturmglocke schlägt, halb vier Uhr morgens. Wir stehen zusammen vor deiner Haustür und du tastest aufgeregt nach dem Schlüssel, ich zittere mehr vor Aufregung als vor Kälte. Nun beginnt sie wieder, unsere Zeit. Unsere Nacht.

      Nachts, zu dir oder zu mir?

      Unter einer wärmenden Decke auf dem Sofa, das Flackern der Bioethanol-Flammen, das dämmernde Licht im Zimmer. Die leise Musik. Oder aber auch auf dem Fensterstock sitzend mit Zigarette in der einen und einem Glas in der anderen Hand, die Nachtluft tief einatmend und den Himmel bestaunend. Oder aber gerade nach Hause kommend, erst einmal Sachen ablegen. Den Eingangsbereich der Wohnung in Licht tauchen, die Wärme spüren. Ich habe es immer gemerkt, unerheblich, was ich tat. Ich spürte es jedes einzelne Mal vorher. Die Sehnsucht war kaum auszuhalten, ich rief dich innerlich und du riefst mich. Dieses Gefühl, welches durch den Körper zog. Schon fast unheimlich. Vorahnungen, wenn man so will. Und sie haben mich noch nie getäuscht.

      „Sehen wir uns?“ Und ob! „Was machst du gerade?“ Ja, das wolltest du oft wissen. „Ich wäre gern bei dir“, oder „ich hätte dich heute gern bei mir“. Keine Chance, daran etwas zu ändern! „Nein, ich kann nicht“, und doch konnte ich immer. Ein Nein war für mich ausgeschlossen. Ich hätte immer alles stehen und liegen lassen. Der Ton erklingt erneut, das kleine Kuvert leuchtet auf. Ich kann nicht beschreiben, wie mein Körper verrücktspielte. Zittern der Hände, weiche Beine, der Magen drehte sich mir fast um. Erst einmal schnell etwas trinken, damit der Kreislauf stabil bleibt. Was hast du da nur jedes Mal mit mir getan? Ob es dir bewusst war, was du angestellt hast? Ob es dir ähnlich erging? Dieses Gefühl, dieser Zustand, er war so befremdlich, er machte mir große Angst. Und doch, niemals hätte ich dazu Nein sagen können.

      Du haust mich jedes Mal aufs Neue um, stellst alles auf den Kopf, was ich mir aufgebaut hatte. Ich bin auch nur ein Mensch, der versucht weiterzumachen, voranzukommen, Perspektiven zu schaffen. Irgendwie durchs Leben zu kommen, ohne Reue. Es schüttelt mich, ich habe überall Gänsehaut. Mein Körper ist wieder so eiskalt. Mein Magen tut mir weh. Das kommt häufig vor, wenn es um dich geht. Ich kenne das alles schon und doch ist es mir jedes Mal neu und unheimlich. Neue Nachrichten, aktualisieren. Da ist wieder der kleine Brief. „Wann kannst du hier sein?“ „Wann kann ich da