Flügelschlag für Flügelschlag. Franka Unger

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Название Flügelschlag für Flügelschlag
Автор произведения Franka Unger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991075424



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ich bin am Leben, aber ich lebe nicht. Ich fliege zwischen zwei Ästen im Käfig hin und her, trinke ein Tröpfchen und esse, weil ich muss. Niemand kommt an meinem Käfig vorbei, niemand interessiert sich, wie es mir geht und niemand schaut mich an, keiner bewundert mich, keiner schenkt mir Aufmerksamkeit. So lebe ich seit Jahren in meinem Käfig. Ich will nicht wissen, wie lang ich dieses Leben noch friste. Mein Leben wird sich jetzt ändern! Ich werde Dinge nicht mehr tun, weil sie sich so gehören und weil alle es tun. Ich werde nur noch tun, was mich erfüllt und glücklich macht, um mir meine eigene Freiheit zu schaffen! Das habe ich gelernt!

      (Für Dich, mein Freund in der Ferne, der Du diesen großen Platz in meinem Herzen einnimmst und in mir damit eine tiefe Sehnsucht auslöst.)

      Erst die Freiheit ließ mich die Zeit in meinem Käfig als schlimm erachten. Erst durch sie veränderte sich meine Wahrnehmung. Doch das Bewusstsein kam allein von mir. Ich lernte durch meine Vernunft und durch den Abschied von der Freiheit, dass ich allein die Quelle meines Bewusstseins war und bin. Und dass ich allein mein Bewusstsein gestalten kann – wie ein Maler seine Leinwand. Mir wurde klar, dass ich einen Weg finden musste, um mein Inneres auf Lebensenergie und Genuss umzuprogrammieren. Und dies glückte nur dann, wenn ich meinen rationalen Anteilen genauso viel Wert gab wie den emotionalen Anteilen. Diese Anteile wurden in meinem nächsten Leben einer strengen Prüfung unterzogen.

      Ich war eine Liebende, welche Leid erfuhr. So stark und prägend, dass ich mich nur noch von diesem Leid lösen konnte, um innerlich nicht zu sterben. So zu lieben wird nicht jedem geschenkt. Doch durch diese schmerzhafte Erfahrung erlernte ich, diese Verbindung loszulassen. Einst sagte der Hase: „Liebe tut weh“, und daraufhin umarmte er den Igel. Das musste ich spüren, um loslassen zu können. Doch der Genuss des Lebens blieb mir weiterhin verwehrt und das Leid hielt Einzug. Die Angst übermannte mich und ich dachte, dass in diesem Leben Liebe immer nur mit Leid einhergehen würde. Und ein Gleichgewicht zwischen Herz und Verstand rückte in weite Ferne. Das Loslassen blieb.

      Nachts

      Heute Nacht war es wieder soweit: Ich habe dich wiedergesehen. In meinen Träumen. Ständig sehe ich dich. Du kletterst mit mir auf Berge, reparierst Dinge oder tankst mit mir an Tankstellen. Auch auf der Gartenschaukel bei strahlendem Sonnenschein saßen wir schon zusammen.

      Doch es gab eine Zeit, in der ich dich nicht nur in meinen Träumen sah.

      Wenn die Nacht Einzug hielt und unsere Sehnsucht uns übermannte, wenn unsere Angst zu gleichen Teilen mit unserer Sehnsucht konkurrierte und wir innerliche Diskussionen führten, während unsere Herzen nur eins wollten: das Gegenüber.

      Wenn sich die schwarze Walze der Nacht über das abendliche Rot des Horizontes ausbreitete und wir immer nervöser und aufgeregter wurden. Wenn wir uns wie zwei Gegenpole anzogen. Wenn wir aufeinander zuliefen- gleichgültig, wie groß die Entfernung war- und uns tief im Inneren schon lang spüren konnten. Wenn uns die Musik durch Mark und Bein ging. Wenn der Magen rebellierte.

      Nachts war unsere Zeit. Briefe, E-Mails und Nachrichten führten am Ende meist zu einem Treffen. Ein Treffen zwischen dir und mir. Ob akribisch geplant oder spontan. Das Herz stark schlagend, Kloß im Hals, weiche Beine und ein Kribbeln im ganzen Körper. Jede Nachricht, die wir uns zukommen ließen, steigerte die Spannung fast ins Unermessliche. Das alles waren ganz allein unsere Nächte. Jeder einzelne Stern am Himmel schien nur für uns. Der Mond war unser Wegbegleiter.

      Wo ich auch wohnte, wenn ich mit meinem Kapuzenpulli in meine Lederjacke schlüpfte, die Cowboyboots anzog und die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Wenn ich hinaustrat und die Nacht begrüßte, wenn ein Ende immer offenblieb. Wenn ein kleines Briefkuvert in der Ecke meines Bildschirms aufleuchtete, wenn ich meinen Körper vorher in Fuel for Life badete. Wenn der Wind ging, der diese Spannung nur noch mehr unterstrich, weil er unser Element ist. Immer dann war es allein unsere Nacht.

      Unsere Nacht, unser Lied, unser Schnaps, unser Lachen, unsere Sterne, unsere Zigaretten, unsere Nachrichten, alles gehörte uns. Und in Gedanken werden sie uns immer miteinander verbinden, diese Nächte.

      Nachts, zu Fuß

      Erwartend, voller Vorfreude, Aufregung und Anziehung. Gleichgültig wie kalt, gleichgültig wie viel Schnee oder wie windig- die Nacht gehörte allein uns.

      Der Wind der Nacht wehte mir durch die Haare, meine Lungen füllten sich mit der kühlen, nüchternen Luft und trotzdem war ich wie betrunken, wie in Trance. Meine Cowboyboots hinterließen Spuren im Schnee. Mein Telefon hielt ich fest in der Hand für deine nächste Nachricht. Was in all diesen Nächten passierte, das wussten wir immer vorher schon. Doch die Aufregung sank nicht. Keine einzige Nacht war wie die andere und jede übertraf die vorhergehende. Doch je schöner es wurde, umso mehr steigerte sich unsere Angst. Unser Respekt vor dem großen Ganzen wuchs. Die Aufregung war kaum auszuhalten. Mein Magen, mein Körper, alles geriet aus der Bahn. Du warst mein Kontrollverlust, meine größte Schwäche.

      Der Wald näherte sich und ich wünschte mir immer, schon weiter zu sein, als ich es war. Mein Telefon gab mir Licht, meine Schritte waren auf dem weichen Waldboden zu hören. Eine Katze funkelte mir mit ihren gelben Augen aus den Büschen zu. Zwischendurch verstohlene Blicke in jede dunkle Himmelsrichtung, flehende Gebete in Richtung Mond und sehnsüchtige Gedanken in Richtung meines Telefons. Jedes Mal, wenn ein Ton erklang und das Display sich erhellte, bekam ich am ganzen Körper Gänsehaut. Nach jeder Nachricht die stetig wachsende Gewissheit: Es geht ihm wie mir.

      Der Wald und der schlammig, weiche Boden lagen hinter mir. Von weitem konnte man die Straßenlaternen sehen. In Gedanken ging ich oft durch, wie viele Male ich diese Strecke als Kind gegangen war, um an den Badesee oder zu Freunden zu gelangen. Doch hätte ich damals schon gewusst, dass ich dich eines Tages treffen und wieder hier entlanglaufen würde, hätte ich das Älterwerden wohl kaum erwarten können.

      Immer war ich innerlich unruhig. Jede Faser meines Körpers wollte in jeder dieser Nächte genau das. Jeder Zentimeter meiner Haut sprach zu mir. Ich erreichte die Straße und nun wurden meine Schritte schneller. Vorbei an all den Einfamilienhäusern, in denen nur noch vereinzelt Licht zu sehen war. Die Dunkelheit war mir lieber. Im Licht der Straßenlaternen fühlte ich mich wie auf einer Bühne, auf dem Präsentierteller meines Lebens und als ein Opfer meiner eigenen Gefühle. Keinen Ausweg kennend. Abhängig von diesem Gefühl der Lebendigkeit, welches mich in diesen Nächten begleitete wie der Mond. Fieber, glühende Wangen, Gänsehaut. Der eisige Wind fuhr mir in die Glieder. Er spiegelte wider, wie unberechenbar und gefährlich dieses Spiel war. Die Nacht war so dunkel, aber dennoch fühlte ich mich in ihr wohlbehütet, sie war wie eine alte Bekannte. Denn seit ich dir begegnet war, befand ich mich oft in solchen Situationen. Durch das Licht der vorbeifahrenden Autos, der Straßenlaternen und der Häuser fühlte ich mich ertappt. Sie erinnerten mich daran, dass ein neuer Morgen kommen wird. Wie gern hätte ich jedes Mal die Zeit angehalten.

      Der Fußweg eisglatt, meine Schritte schnell und gezielt, die Blicke auf mein Telefon gerichtet. Die Vorfreude steigerte sich mehr und mehr. Ich bog ab auf die letzte beleuchtete Straße. Ich stieg über kleinere Schneehaufen, meine Hände, in denen ich mein Telefon hielt, waren schon fast blau. Mein Atem war zu sehen. Meine Augen funkelten im Sternenlicht, meine Sinne schärften sich zusehends. Ein Ast knackte unter meinen Cowboyboots. Ein Hund bellte in der Ferne, ein Moped ratterte. Der Bach plätscherte. Letzte Straße, eine Straßenlaterne flackerte über mir, als wollte sie mich warnen. Ich warf ihr Blicke zu, verstohlen und verschämt rechtfertigte ich mich gedanklich vor dieser Laterne, mit dem Satz: „Ich weiß, aber ich kann nicht anders!“ Kurze Atempause, in der Jackentasche nach einer Zigarette kramen. Meine Finger waren eiskalt. Ein tiefer Zug an der Zigarette und ein Blick hinauf zu meinem Freund, dem Mond. Das Herz sprang mir trotz der Pause fast aus der Brust. Ein weiterer Ton meines Telefons, ein Blick darauf, gleich war es soweit. Du warst ganz nah. Meine Schritte wurden wieder schnell, vorbei an all den flackernden, warnenden und mich verspottenden Laternen. Vorbei an all den Einfamilienhäusern, in denen es warm war und die voller Liebe waren. Da, das Ende der Straße, das Ortsausgangsschild. Die letzte Laterne. Da kamst du um die Ecke. Da warst du, endlich. Nun konnte sie beginnen, unsere Nacht, allein