Название | Flügelschlag für Flügelschlag |
---|---|
Автор произведения | Franka Unger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991075424 |
Es vergingen Jahre, in denen es mir nicht gut ging. Mein Federkleid wurde grauer, meine Augen schlechter, mein Zustand schwächer. Ein paar Vögelchen schafften es zwar, meine Mauer zu durchbrechen. Und gegenüber jenen, die es schafften, konnte ich lustig, aufgeschlossen und liebenswert sein. Doch in mir wohnte sie jetzt nun einmal, die tiefe Trauer. Sie gehörte zu mir. Über die Jahre hinweg sammelte ich meine Kraft nach und nach wieder und beschloss, das zu tun, was um mich herum auch alle anderen taten, damit mein Leben nicht gar zu sinnlos bleiben würde: Ein Nest zu bauen und ein Ei zu hüten und zu wärmen. Ich hatte nicht mehr viel Wärme in mir übrig, war aber sehr entschlossen, es zu wagen. So kam es, dass ich eines Tages nicht mehr allein war, und bald nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt. Aus meinem Ei schlüpfte das schönste Küken der Welt, zu dem meine Liebe bedingungslos und endlos war. Ein Nest war schnell gebaut und mein Innerstes war nicht mehr ganz so düster. Ich erlebte glückliche, kritische und schmerzliche Momente und war am Leben. Ich atmete nicht so tief wie in der Freiheit, aber Hauptsache ich atmete. Mein Küken war der Lichtblick, den ich brauchte. Mein Partner gab mir den nötigen Halt, um nicht wieder gänzlich zu versinken. Die Zeit verstrich. In mir haben die Gedanken über diese Freiheit nie ganz aufgehört, doch sie sind verblasst und ich lernte mit ihnen zu leben. Manchmal holten sie mich ein, wenn ich spätabends oder in der Nacht aus meinem Käfig heraus in die Sterne schaute. Dann fragte ich mich, ob es das jetzt tatsächlich gewesen sei.
So viel Zeit ohne die Freiheit war, seit ich diese kannte, noch nie vergangen. Offensichtlich hatte sich die Freiheit vor längerer Zeit ein Vögelchen gesucht, mit dem sie besser zurechtkam, das besser flog als ich und nicht alles auf einmal wollte. Ein Vögelchen mit Geduld und viel Liebe. Ein Vögelchen, welches die Freiheit mit ihrer Sonne, dem Wind und dem Schimmern noch schöner machte. Doch tief in mir wusste ich, dass es niemals einen Vogel geben wird, der mit der Freiheit eine so tiefe Verbundenheit empfinden wird wie ich. Beim Gedanken daran ärgerte ich mich darüber, dass ich all dies nicht konnte und der Freiheit nicht genügte. All diese Fragen in meinem Kopf kamen nie zu einer Antwort. Ich gab mich zufrieden mit allem, was ich mir in meinem Käfig geschaffen hatte. Es genügte mir zum Glücklichsein. Ich war stolz und kämpfte tagein tagaus für meine kleine Vogelfamilie. Jahr um Jahr war ich mir zunehmend sicher, dass die Freiheit zur Vergangenheit gehörte.
Plötzlich, an meinem Geburtstag, wieder ein helles Licht! Ein Licht, wie ich es nur von der Freiheit kannte. Mein Bauch kribbelte. Ein erfrischender Windstoß, so wie ihn nur die Freiheit jedes Mal durch mein Federkleid fahren ließ, ich zitterte. Ein Glänzen, so schön wie ich es vorher nie kannte – bis auf meine Zeit mit der Freiheit. Mein Kopf wurde ganz heiß. Das alles konnte nur eines bedeuten. Ich wagte den Blick zu meiner Käfigtür und sie stand offen. Ich war fassungslos und konnte das alles gar nicht glauben. Die Freiheit, sie war wiedergekommen, zu mir. Ja, zu mir! Sie schien mich doch nicht vergessen zu haben. Vor lauter Aufregung dachte ich nicht an Richtig oder Falsch und wagte mich langsam und eher schleichend nach draußen. Diesmal war kein Blick zurück in meinen Käfig nötig, denn mittlerweile war ich mir sicher, dass ich hier sowieso wieder landen würde. Dieses Mal wollte ich es aber anders machen. Ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich zurückkehre, selbst bestimmen, und ich wollte, dass es sanfter ablief als die vorhergehenden Male. Da war er wieder, der Wind, der mir unter die Flügel fuhr. Ich stieß mich ab und flog. Wie hatte ich das vermisst, dieses Atmen, es war einmalig! Alles kribbelte und kitzelte an mir, ich fühlte mich so lebendig wie jahrelang nicht mehr. Ich genoss das warme Lächeln der Sonne auf meinem geschundenen Gefieder, ich kostete jeden Windzug aus, war er auch noch so klein. Ich tat dies alles zärtlich und gefühlvoll. Ich flog nur dorthin, wohin die Windstöße mich haben wollten, ließ mich tragen, versuchte nichts zu überstürzen oder zu erzwingen. Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte durch die Augen in dieses sanfte, wärmende Licht. Das Schimmern und Funkeln brachten mich zum Jauchzen. Ich bin am Leben! Ja, ich bin am Leben und ich bin lebendiger als je zuvor. Was hatte ich nur alles verpasst? Auf was für großartige Gefühle musste ich nur all die Jahre verzichten! Ich war schockiert, wie lange ich es ohne die Freiheit nur aushalten konnte! Es war wunderschön, ich begegnete der Freiheit mit viel Achtung und Stolz. Es war ein großes Privileg für mich, sie tatsächlich erneut genießen zu können und es breitete sich Dankbarkeit in mir aus. Dieses pure, reine Glück kann ich niemandem beschreiben.
Nach einer Weile nahm der Wind zu. War ich jetzt schon ein paar Tage geflogen? Die Zeit verging so schnell, weil es so schön war. Ich fragte die Freiheit, warum wir nicht zusammen sein können und warum ich sie nicht mit in meinen Käfig nehmen oder hier bei ihr bleiben könne. Sie antwortete mir sanft, aber fest entschlossen, dass sie nicht mitkommen könne, weil sie hier sonst alles, was aus ihr geschaffen wurde, allein lassen müsse. Und ich könne nicht bei ihr bleiben, weil ihr diese starke Anziehungskraft, die zwischen uns herrscht, Angst mache. Die Freiheit erklärte mir, dass sie mich nicht dauerhaft um sich haben kann, da sie zu solch etwas Großem nicht fähig sei. Doch sie musste mich immer wieder in meinen Käfig sperren, damit sie wusste, dass sie mich nicht ganz verliert. Denn ganz ohne mich konnte sie nicht sein, sonst hätte sie mich nicht immer wieder für ein paar Traumflüge zu sich geholt.
Der Wind ließ mich nicht mehr gleiten und ich fing an zu wackeln. Nein, nicht schon wieder ein Absturz! Das wollte ich nicht. Gefühlvoll und vorsichtig gleitete ich zu Boden. Ich sah mir die Freiheit noch einmal ganz genau an. Ich nahm noch einmal einen tiefen Atemzug. „Danke“, konnte ich ihr nur sagen und sie schimmerte und funkelte mich an wie nie zuvor. Ich war so glücklich und wollte noch gar nicht zurück, aber ich musste, sonst würde es wieder ungemütlich für mich enden. Das hatte ich inzwischen von der Freiheit gelernt.
Ich hüpfte diesmal ganz von allein auf meine offene Käfigtür zu und sah noch einmal zurück. Obwohl der Wind der Freiheit inzwischen tobte, streichelte sie mir ein letztes Mal noch mit einem Sonnenstrahl über meine Federn. Dieses Mal habe ich keine Feder verloren. Dieses Mal gehe ich von allein zurück in meinen Käfig und bin voller Dankbarkeit, dieses Glück noch einmal erlebt haben zu dürfen.
Der Abschied fällt mir jedoch schwer. Schnell hinterlasse ich eine kleine zarte Feder von mir. Und diesmal freiwillig, damit ich weiß, dass ein Teil von mir immer im Wind der Freiheit wehen wird. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Wie kann man nur zufrieden und gleichzeitig so unglücklich sein? Das werde ich wohl nie verstehen. Ich hüpfe in meinen Käfig, die Tür schließt sich sanft hinter mir und ein letztes Glitzern ist zu sehen. Nun weiß ich, dass die Freiheit auch mich vermisst hat, sie hat genauso auf mich gewartet wie ich auf sie. Sie hat meinen Rundflug genauso genossen wie ich. Sie war bei jedem meiner Ausflüge über die Jahre hinweg genauso ängstlich wie ich. Nun haben wir eine sanfte Landung geschafft. Von diesem Erfolg fühle ich mich noch ganz betrunken und am Himmel fliegt auch noch eine Sternschnuppe vorüber. Ich bin erschöpft, müde und merke, dass ich schon lange nicht mehr gegessen und getrunken habe, weil ich von der Freiheit zehren konnte. An die Sternschnuppe richte ich gedanklich noch eine tiefe Dankbarkeit und ein „Lebewohl“, bevor ich zufrieden in den Schlaf sinke. Die Freiheit weiß jetzt so gut wie ich, dass ich sie nicht mehr besuchen werde, weil ich es nicht ertragen kann, sie nicht dauerhaft haben zu können.
Meine Trauer sitzt am nächsten Tag wieder genauso tief wie jedes Mal zuvor. Ich habe mich zwar dieses Mal nicht verletzt, aber trotzdem fühle ich mich wieder, als müsse ein Teil von mir gehen, als müsse ich mich verabschieden, als würde ich trauern. Ich weiß schon aus Erfahrung, dass das Kribbeln in mir noch ein paar Wochen anhalten und mit meiner tiefen Traurigkeit so lang konkurrieren wird, bis es mir wieder Löcher in Herz und Kopf frisst und ich kaum noch klare Gedanken fassen kann. Doch ich bin dankbar, dass es diesmal so sanft funktioniert hat, trotz Herzschmerz. Das Ende wird immer offenbleiben. Wird die Freiheit es bei diesem letzten unfallfreien Flug belassen oder wird sie mich in ein paar Jahren erneut aufsuchen? Das steht alles in den Sternen. „Liebe Freiheit, auf Dich und deine Sterne, auf das, was du in Haut und Herzen trägst, ich dank Dir.
Dich genießen zu können, wird immer ein Teil von mir bleiben. Du und ich haben uns etwas geschaffen, was uns niemand mehr nehmen kann und es fehlt mir, Dich zu spüren, an jedem Tag, an dem ich lebe!“
Ich