Название | TITANROT |
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Автор произведения | S. C. Menzel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957658388 |
Chan erlaubte sich ein Lächeln. »Erst in einigen Jahren wird es mir möglich sein, deine Anwendung offenzulegen. Du hast Zugriff auf die Gesetzestexte. Kannst du mir sagen, weshalb ich warten muss?«
»Weil meine Existenz innerhalb des Verwaltungsgebietes der Sol illegal ist«, erklärte der Avatar.
Chan spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. »Was meinst du mit: deiner Existenz?«
Der Junge blinzelte und verfiel wieder in die übertriebene Denkerpose. »Existenz ist das Vorhandensein eines materiellen oder ideellen Gegenstands.«
Chan seufzte. Diesen Satz hatte es mit Sicherheit direkt aus dem Wörterbuch übernommen. Stand er doch nur einem weiteren Sprachassistenten gegenüber?
»Sie sind enttäuscht«, stellte der Avatar fest. »Ich vermute, Sie haben auf eine andere Antwort gehofft. Aber dafür haben Sie die falsche Frage gestellt.«
Chan hielt den Atem an. »Welche ist die richtige Frage?«
Wieder dauerte es eine Weile, bevor der Avatar antwortete. »Sie möchten fragen, ob ich ich bin.«
Chan keuchte vor Überraschung. Natürlich hatte er alle Definitionen und Beschreibungen eines Bewusstseins aus den Nachschlagewerken gelöscht. Er wollte keine Lexikondefinitionen von seinem Schützling hören, wenn es um die Entscheidung ging, ob er einem Individuum gegenüberstand oder einem ausgeklügelten Algorithmus. Aber es schien, als brauchte dieses Wesen keinen Spickzettel.
Die Baupläne und Programme des Fremden funktionierten. Irgendjemand da draußen besaß das Wissen, künstliche Intelligenzen zu erschaffen, die sich als Individuen begriffen. Offiziell waren diese Informationen nach dem Bruch verboten worden.
»Und?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Bist du du?«
»Ja«, antwortete es bestimmt.
»Und wenn ich dein Programm lösche und neu aufspiele? Bist das noch du?«, hakte Chan nach. Er sollte nichts überstürzen, sollte seinem Neugeborenen die Zeit geben, diese Dinge selbst zu erkunden. Ein unüberlegter Denkanstoß konnte seine Bewusstseinsprüfungen zunichtemachen. Aber er fühlte sich außerstande, den Mund zu halten. Er hasste sich für diese Ungeduld. Diese typisch menschlichen Unzulänglichkeiten, mit denen er sich rumschlagen musste.
»Nein«, sagte der Avatar und wirkte sich seiner Sache sehr sicher. »Wenn Sie mein Programm löschen und neu aufspielen, fehlen die Erfahrungen, die ich gerade gemacht habe. Das Gespräch, das wir führen, die Gedanken, die ich dazu habe. Ich habe neue Erinnerungen erlangt und meinen Erfahrungsschatz erweitert.«
»Was, wenn wir dasselbe Gespräch führen und du dieselben Gedanken dazu hast?«
»Das ist unwahrscheinlich«, sagte der Avatar. »Menschen sind ungeeignet, um dasselbe Gespräch zu wiederholen. Ist Ihnen bewusst, wie viele unwillkürliche Gesichtsausdrücke Sie in diesem Gespräch benutzt haben? Außerdem ist es ebenfalls unwahrscheinlich, dass ich dieselben Reaktionen zeigen werde.«
»Was, wenn ich es könnte und du gleich reagieren würdest?« Er sollte aufhören. Das Programm hatte mehr als genug geschafft, in diesen ersten Minuten. Er gefährdete sein Experiment mit seiner Ungeduld.
Wieder blieb der Avatar stumm. Allerdings verzichtete er auf die Denkerpose. Stattdessen stand er reglos und starrte seinen Schöpfer an. »Dann wäre ich vielleicht ein zweites Mal ich.«
Der Junge bewegte sich wieder und wirkte beunruhigt. »Bitte löschen Sie mich nicht.«
»Warum?«
»Ich möchte weitere Erinnerungen produzieren.«
»Diese Fragen waren rein theoretischer Natur«, versprach Chan und spürte ein Brennen in den Augen. Er beschloss, seinen Schützling »Titanrot« zu nennen. Die Farbe, die man erhielt, wenn man Herzblut mit dem Schwarz des Alls vermischte. »Assistentin? Starte das Überwachungsprogramm. Verfasse einen kontinuierlichen Bericht. Wenn Probleme auftreten: benachrichtige mich sofort.«
»Simulation mit voreingestellten Parametern wird gestartet. Kontinuierlicher Bericht wird angefertigt. Benachrichtigung bei Problemen wird zugestellt.«
»Schließe Projektion des Avatars.«
Die Gestalt des Jungen verschwand und Chan begann seinen Eintrag im Laborbuch. Erfolge verzeichnete er besonders gerne.
Totschlag
Sonnenwind, auf dem Weg nach Amarok
Der Frachtraum im Bug sah aus, als sei eine Bombe explodiert. Zehn Jahresrationen an Nährstoffkartuschen, Kalorieneinheiten und Aromen klebten als gelbbraune Schmiere an jedem Quadratzentimeter. Eine nach Vanille riechende Wolke aus feinem Puder und abgerissenen Metallteilen wirbelte im Zug der Lüftungsanlage.
Lena atmete etwas von dem klebrigen Staub ein und hustete. Er schmeckte süß und hinterließ ein pelziges Gefühl im Rachen. Widerlich.
Unter der Bugklappe, direkt über ihrem Kopf, hing eine gelbliche Wasserblase von fünf Metern Durchmesser. Anscheinend war mindestens einer der Wassertanks geplatzt und hatte mehrere Tonnen seines kostbaren Inhalts ins Lager entleert. Werkzeuge und abgerissene Kistendeckel schwebten darin, wie eingefroren. Lena schnalzte mit der Zunge. Sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollten, diese Sauerei aufzuräumen.
Das Shuttle von Lehrsinn-Bode hing ebenfalls an der Blase. Mit der Bugspitze auf dem Wasser dümpelnd, sah es wie der Schwimmer einer Angelrute auf der Wasseroberfläche aus. Teile zerquetschter Vorratskisten klebten immer noch an der Außenhülle der Fähre, die vergleichsweise unbeschädigt wirkte. Abgesehen von dem Riesenloch in der Backbordseite. Und den Metallstreben der alten Bettgestelle, die hier drin eingelagert worden waren und nun wie Speere in den Scheiben des Cockpits steckten.
Durch die Öffnung in der Seite erspähte sie Nance, die mit dem Rücken zu ihr vor einer Sitzreihe schwebte und sich über etwas beugte. Die orangefarbene Notbeleuchtung des Shuttles ließ die grünen Zöpfchen der Programmiererin schwarz wirken.
Lena stieß sich kräftig vom Boden ab und schwebte mitten durch die Puderwolke auf Nance zu. Der gelbe Staub verfing sich in ihren Haaren und geriet in ihre Augen. Halb blind suchte sie Halt an den Rändern der Außenhülle. Ein Stromschlag fuhr durch ihre Fingerspitzen und knallte dumpf in ihre Schulter. Ihr ganzer Arm fühlte sich taub an. Sie schüttelte ihn, um das Gefühl zu vertreiben. Es half nichts.
Der Staub verklumpte mittlerweile zu scharfkantigen Traumsandkrusten in ihren Augenwinkeln. Immerhin sah sie so wieder etwas. Benommen wischte sie mit dem Handrücken die Verkrustungen aus ihren Augen und betrachtete den Rand des Loches. Die aufgerissene Außenhülle wimmelte dort, als versuchten miteinander verworrene Würmchen, sich ständig neu zu ordnen. Die Autoreparatur versuchte, die Hülle wieder instand zu setzen. Allerdings nahm das Loch mit etwa drei Metern Durchmesser die halbe Backbordseite ein. Der Materialvorrat reichte nicht aus, um es zu stopfen.
»Komm rein, Lena!«, rief Nances Stimme aus dem Shuttleinneren. Lena benutzte die Füße, um sich von der Außenhülle abzustoßen und hineinzufliegen. Sie war lernfähig. Noch einen Stromschlag brauchte sie nicht. Der Erste ließ ihre Finger immer noch pochen.
Nach dem hell erleuchteten Frachtraum kam ihr die orangefarbene Beleuchtung im Shuttleinneren dunkler vor, als ihr Beschleunigungstank. Nances winzige Gestalt schwebte nur wenige Meter unter dem Cockpit der Fähre. Ihre Zöpfchen umwaberten ihren Kopf wie Seetang. Neben der Programmiererin lugten zwei Helme über die Rückenlehnen einer Bankreihe. Dahinter zog Dans dürre Gestalt direkt unter der Lampe des Cockpits einen dritten Helm ab und legte Tians Glatze frei. Der große Mechaniker rührte sich nicht.
»Und?«, fragte Lena. In ihrer Kehle steckte ein Eisklumpen, der ihre Stimme an dem einen Wort zerbrechen ließ. Sie räusperte sich und sprach lauter weiter. »Wie geht’s ihnen?«
»Tian und Kroll sind bewusstlos, aber lebendig«, erklärte Nance. Die großen Augen der Programmiererin glitzerten.
»Wirklich?«