Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier

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Название Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Автор произведения Johanna Lier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038670476



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hatte.

      Und warum hatte sie das Papier in die Windel gesteckt?

      Ohne auf die stummen Fragen des Hausierers einzugehen, drückte sie ihm ein paar Münzen in die Hand und schob ihn aus ihrem Haus und hörte nicht hin, als er sich umwandte und sie kichernd fragte, ob sie denn wisse, was Fishel bedeute?

      Doch nicht nur, weil sie dieses Kind und das Papier mit der chilenischen Anschrift zwölf Jahre später dem Juden Menachem Yuter in Sambir übergeben und es solcherart der Mutter, der schwarzen Charna, zurückgeben wollte, zog Blanka das Pferd aus dem Stall, noch viel drängender war ihr, das schwarze Balg aus dem russisch-polnischen Reich über die Grenze ins österreichische Land zu bringen, weit weg, denn das unberechenbare Mädchen, das mit dem Trinken begonnen hatte, drohte am Ende die Aufmerksamkeit der Gendarmerie auf sich zu ziehen, und dann wäre es aus mit Blankas und ihrer Familie Leben. Die Polizisten des Zaren würden ihrer sündhaften Tätigkeit auf die Spur kommen, die Leichen der Säuglinge, die Blanka hinter der Hütte in der Erde verscharrt hatte, entdecken und sie und ihren Sohn Petrik am nächsten Baum aufknüpfen.

      Nicht üblich war es zwar, Frauen auf dem Bock eines Wagens zu sehen. Es schien ihr jedoch undenkbar, Petrik oder den blöden Knecht zu bitten, da sie auch ihnen gegenüber verschwieg, woher das wenige zusätzliche Geld und damit auch Hannah gekommen waren, und dass sie die ihr anvertrauten Säuglinge in einer entfernten Hütte austrocknen liess. Sie war es, die für die Familie sorgte und ausschliesslich die Last des Überlebens trug. Ihre Familie bedeutete ihr Schicksal, Gefäss, Welt, Glück und Gott auf Erden, umso mehr, da ihr der Hunger die älteren Kinder und zwei ihrer Geschwister und ein Trupp marodierender, französischer Soldaten den Mann geraubt hatten. Weder Fleiss noch Mut oder Gottesfurcht hatten geholfen. Stolz musste man sein und sich zu wehren wissen. Und so spannte sie das alte, magere Pferd eines Nachts vor den Karren. Sie würde die Blicke und den Spott aushalten, eine Frau auf dem Bock, was für eine Schande, doch verfügte sie über einen festen Willen und die Fähigkeit, nur gerade so viel zu erfassen, wie notwendig war, nicht zurück- und nicht vorwärtsschauen, davon hing ihr Überleben ab, und das Kind musste weg.

      Weg aus dem polnischen Backsteinhaus, das unter wuchernden Pflanzen erstickte, hin zu der galizischen, kohlrabenschwarzen Erde, die, von den Flüssen gebracht, diesen fetten Weizen hervorbrachte, und aus dem Sand gewachsen war – dunklem, zwischen den Gletschern zerriebenem Sand – ein Meer von Föhren, Birken und Eichen. Störche, die durstig ihre Schnäbel in das Steppengras eintauchten und in Farben ertranken, Pflaumenrot, Schleierweiss, Buttergelb, Lindengrün. Das Licht drang zwischen die Föhrenstämme und entzündete diesen trockenen, duftenden Mund: einbrechen, durchbrechen, durch die Wälder brechen.

      Blankas bedächtige Härte wie auch Hannahs Angst wurden vom Wind davongetragen und befruchteten die Steppe. Manchmal legte Blanka schützend ihre Hand auf die Halswirbel ihrer Hannah und nahm sie fest zwischen die Finger. Und Hannah klammerte sich an Blankas Fussknöchel, um nicht vom geschüttelten Wagen in diese verschlingende Pflanzenwelt geschleudert zu werden, auf den Grenzmarksteinen aufzuprallen, in der Steppe kopflos schwebend verloren zu gehen oder von gierigen Heuschrecken aufgefressen zu werden.

      So blieb Blanka nur die Hoffnung, dass Hannah sich festhielt, während die Peitsche auf den Rücken des mageren, alten Pferdes niedersauste – antreiben und Gott vertrauen auf endlosen Wegen, die sich durch die Landschaft frassen, Flüssen entlang, deren Hälse von Schilfkrägen gesäumt, und Gewässern, aus deren feuchter Wangenhaut Seerosenstoppeln wuchsen, und nicht mal Blanka wusste genau, wovor sie sich so fürchtete: War es der Rachegott, der Hüter ihrer Albträume? Oder waren es die berittenen Steppenbewohner, die ruthenischen Kosaken, die alles niedermetzelten, was sie für polnisch, für russisch, deutsch oder gar für jiddisch hielten? Waren es die Gesetzeshüter des russischen Zaren, die sie für ihre Dienste an gefallenen jüdischen Frauen hingerichtet hätten? Oder flüchtete sie vor der zellstofflichen, sabbernden, erstickenden, vor Chlorophyll platzenden Galaxie, die auf ihre stupide, kreatürliche Art allen Lebewesen die Luft zum Atmen raubte und nicht genug abwarf, um sie alle zu ernähren?

      Strebte sie Hannahs Blicken zu entkommen, die sie belauerten?

      Und in Hannah nagte die Frage, was denn an ihr so schlimm war, dass Blanka sie wegbrachte. Ununterbrochen dachte sie daran, doch ihr Kopf konnte die Geschwindigkeit der Ereignisse nicht bewältigen, was sie mit Zorn erfüllte und ihr Herz erstarren liess, das Rattern der Räder hämmerte die Gewissheit der baldigen Trennung erbarmungslos in ihr Bewusstsein und sie fasste fester zu und beschloss, ihren wütenden Klammergriff nie wieder zu lösen. Ich weiche nicht von ihrer Seite, ich lasse sie nicht für einen Wimpernschlag aus den Augen, ich träume nicht, ich schlafe nicht, ich tue alles, wie Blanka es will, so vergisst sie mich und ihr Vorhaben, mich auszusetzen … Und so verlor Hannah mit jedem Meter, den sie fuhren, ein Stück der Familie, die ihr so oft eine Gefahr und das Aushalten von Schmerz gewesen war, doch kannte sie nichts Besseres und sie hatte gelernt, durch die Liebe zu Blanka die Furcht vor Petrik und dem blöden Knecht zu bannen. Und sie erinnerte sich, wie sie den Hof durchquert hatte, gehalten von Blankas Griff, wie sie durch das Tor in die Wiese gelangt war und einer Eingebung folgend sich von der Hand löste, davonlief, den Kopf voran, und, die Arme erhoben, sich in die brusthohen Wellen des Gräsermeers warf. Sie sah vor sich den schwarzen Wald, dorthin wollte sie, schneller, nur schneller sein als Petrik, der ihren verhärteten Körper schlug, schneller sein als der Knecht, der ihre entzündeten Geschlechtsteile durchbohrte, ja schneller sein als der eigene Körper, sie verspürte den brennenden Wunsch nach Freiheit, befreit zu sein, und so rannte sie, den Kopf voran, aus sich selbst heraus, ihre Füsse stolperten, die Halme klatschten an den Hals und die Wangen, Insekten summten und sie fühlte die harte Erde und das wackelige Gleichgewicht, und doch lief sie und lief, da ihr die Geschwindigkeit half, nicht zu fallen, und ein aufschiessendes Glücksgefühl trug sie weg von Blankas Körper und ihrer festen Hand. Je weiter sie sich jedoch durch dieses Gräsermeer Richtung Wald entfernte, je heftiger dieses Glücksgefühl in ihr brannte, desto zäher flossen aus den verstecktesten Winkeln ihrer Zellen Schuld und Angst, sie drohte zu platzen, sie schnappte nach Luft: Blanka würde sie bestrafen, Blanka würde sie verlassen.

      Hannah sass in Gedanken versunken auf dem Wagen, starrte auf den schweissnassen Rücken des Pferdes, der sich wie das Gräsermeer auf und ab bewegte, und versuchte ihr wild klopfendes Herz zu zähmen und sich mit herbeigeholten Fantasien zu trösten. Die Vorstellung, dass Petrik, der sie täglich geschlagen, seine bösartigen Gelüste nun am blöden Knecht, der Nacht für Nacht im Stroh zwischen ihren angespannten Beinen herumgewühlt hatte, austoben würde, gefiel ihr und brachte sie sogar zum Lachen. Wenn zwei sich zusammentun, um dich zu vernichten, und du machst dich davon, dann schlagen sie sich gegenseitig tot …

      Am Abend band Blanka das Pferd an einen Baum, setzte sich mit dem Rücken an den Wagen gelehnt auf die Erde und öffnete ihren grossen Mund, um erschöpft den Mangel an Nahrung festzustellen, schloss ihn wieder und schwieg.

      Manchmal gab es eine Kuh. Gestohlene Milch. Heidelbeeren und Pilze, die der Wald hergab. Wenn in den Gärten die Feuer brannten und der Himmel farb- und trostlos wie fauliger Abfall war, starrte Blanka in die Landschaft – Felder, Heidehäute, weidegrünes Haar, während des Tages pralle, gelbe, liebeshungrige Welt, um dann in der Dämmerung sich aufzulösen – und Hannah sog den Rauchgeruch tief ein und fühlte sich entschlossen und zuversichtlich, sie und Blanka, allein in dieser weiten Welt. Wir überleben, weil ich Sorge trage, weil ich Blanka nicht aus den Augen lasse … Noch sind wir beisammen, sie und ich, ich und sie … Und Blanka mahlte mit dem Mund und schmeckte die würzige Erde, die zwischen den Zähnen knirschend zerschmolz, das knackige Korn, das auf der Zunge Wurzeln schlug, spürte, wie die Wellen von Hannahs klammernder Wut über ihr zusammenbrachen.

      Sie starrte in diese Weite, Sehnsuchtsweite, seelenzerreissende Weite, sinnlos, grausam, ihre Welt, bitteres Bier, und in ihrem Schluckauf drohte die flüchtige Blanka Pawelka aus Zamość zu diesem Gott hinauf, der mit grosser Geste seine Hände ausstreckte und mit bösen Worten ihr ins Gewissen geiferte. Regengüsse wie Umarmungen. Gewitterschübe wie Schläge auf den nackten Hintern. Wald und Wiese.

      Sie dachte an ihre schwangere Mutter, an den dicken Bauch, der durch die Tischplatte vom Oberkörper und Kopf abgetrennt war, an die aufgesprungenen Hände, die sich um die Schale schlossen und sie gierig