Название | Die kapitalistische Gesellschaft |
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Автор произведения | Boike Rehbein |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846357651 |
Heutzutage spielt die Industrie in den meisten westlichen Ländern eine immer geringere Rolle für die Wirtschaft. Die Produktion ist entweder so technisiert, dass kaum Arbeit notwendig ist, oder sie wird in Billiglohnländer verlagert. In den USA trägt die Industrie heute weniger als 15 Prozent zum Bruttosozialprodukt (BSP) bei – weniger als in den landwirtschaftlich geprägten ärmsten Ländern der Welt wie Nepal oder Niger.8 Die industrielle Produktion war nur so lange von entscheidender Bedeutung für den Kapitalismus, wie die Profitraten höher waren als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Das wiederum war nur unter kolonialen Bedingungen der Fall. In der kolonialen Welt konnten die Kolonialmächte ihre Rohstoffe zu sehr geringen Kosten aus den Kolonien beziehen, sie im eigenen Land verarbeiten und die Endprodukte zu hohen Preisen verkaufen. Mit dem Ende der Kolonialzeit und der Abwanderung der Industrie in die ehemaligen Kolonien verringerte sich die Rentabilität der Industrie im Westen, und das Kapital kehrte zurück in den Handel und die Finanzwelt.
In der Phase der Industrialisierung schrieben Adam SmithSmith, Adam, David RicardoRicardo, David und Karl MarxMarx, Karl die Klassiker der Volkswirtschaftslehre. Sie alle hielten die Industrie für das Zentrum des Kapitalismus und die Produktivität der Arbeit für seinen Motor. Infolge der großen Bedeutung der Naturwissenschaften zu jener Zeit bemühten sie sich, den Kapitalismus als ein Phänomen zu erklären, das naturwissenschaftlichen Gesetzen unterlag. Im Nachhinein zeigt sich, dass die Industrie kaum zwei Jahrhunderte lang den Kern des Kapitalismus bildete. Auch der Glaube, dass der Profit allein durch die Ausnutzung von Lohnarbeit gebildet wird, erweist sich als kurzsichtig. Und schließlich stellt sich heraus, dass der Kapitalismus keineswegs naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegt, sondern gesellschaftlich produziert wird.
MarxMarx, Karl hat den Kapitalismus als eine Produktionsweise gedeutet, eine historische Stufe der Entwicklung materieller Reproduktion.9 Der Kapitalismus soll ihm zufolge die historische Aufgabe erfüllen, die Produktivkräfte zu verbessern. Damit lässt sich der Kapitalismus als eine Stufe in einer teleologischen Höherentwicklung der materiellen Reproduktion der Menschheit erklären.10 Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise ist laut Marx die kostenlose Mehrarbeit, die industrielle Lohnarbeiter (Proletarier) für den Kapitalisten leisten.11 Ihre Ausbeutung soll historisch durch „ursprüngliche Akkumulation“ ermöglicht werden, insbesondere durch den Kolonialismus und die Enteignung, die zu einer Konzentration von Kapital innerhalb einer sozialen Klasse führen.12
Diese Erklärung des Kapitalismus ist in vieler Hinsicht plausibel, enthält meines Erachtens aber mehrere Fehler. Erstens schafft die Ausbeutung von Sklaven oder der Natur für MarxMarx, Karl keinen ökonomischen Wert. Das ist falsch. Zweitens ist der Aberglaube an historische Gesetze gerechtfertigt, wenn man wie Hegel Gott zugrunde legt, nicht aber aus Marxscher Perspektive. Drittens beruht die gesellschaftliche Hierarchie laut Marx auf dem Grundverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise, dem zwischen Kapital und Proletariat. Letztlich ist es genau umgekehrt. Das Verhältnis zwischen Kapital und Proletariat beruht auf der gesellschaftlichen Hierarchie. Schließlich war der Kapitalismus schon vor der Industrialisierung entfaltet, die Kolonialgesellschaften waren kapitalistische Unternehmen und nicht nur ursprüngliche Akkumulation.
Wir werden am Ende des Kapitels sehen, dass der Kapitalismus keinesfalls die historische Aufgabe hat, die Produktivkräfte zu verbessern, auch wenn er das tatsächlich getan hat. MarxMarx, Karl hat wie SmithSmith, Adam die Bedeutung der Produktion für den Kapitalismus stark überschätzt. Der Kapitalismus setzt vielmehr eine materielle Reproduktion der Gesellschaft außerhalb seiner selbst voraus. Ohne die kostenlose Arbeit in der Familie, ehrenamtliche Tätigkeit, staatliche Sozialmaßnahmen und eine nicht-kapitalistische Wirtschaft würde der Kapitalismus sofort zusammenbrechen, weil die meisten lebensnotwendigen Tätigkeiten nicht kapitalistisch organisiert werden können. Sie bringen keinen Profit. Selbst der größte Teil der Wirtschaft ist nicht kapitalistisch organisiert. Die Kapitalisten monopolisieren nicht die Produktionsmittel. Viele der Produktionsmittel absolut notwendiger Güter, von Bauernhöfen über Bäckereien bis zu Handwerksbetrieben und Präzisionsmaschinen befinden sich im Besitz kleiner und mittlerer Unternehmer, die auch Marx nicht zur Klasse der Kapitalisten gezählt hätte.
Mit höchster Wahrscheinlichkeit gibt es keine historische Aufgabe des Kapitalismus. Wenn es sie gäbe, bestünde sie nicht in der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Klasse der Kapitalisten beutet alles aus, was einen Profit bringen kann. Dazu gehört auch die industrielle Lohnarbeit – aber ebenso die Finanzspekulation, Sklavenarbeit und der Abtransport von Ressourcen. Sie dienen allesamt nicht der Produktion eines ökonomischen Werts und nicht einmal vorrangig der Bereicherung einer Klasse, sondern einer Herrschaftsstruktur. Wir müssen den Kapitalismus als Komponente einer bestimmten Gesellschaftsform deuten, die hierarchisch organisiert ist, nicht als Wirtschaftssystem oder Produktionsweise.
2.7 Ausbeutung der Natur
Die Menschen – und alle anderen Lebewesen – leben seit jeher von der Natur. Nur der Kapitalismus aber beutet die Natur systematisch aus, um Profit zu machen. Zwar wurde bereits vor vielen Jahrtausenden mit Naturprodukten gehandelt, von Salz über Wurzeln bis hin zu Muschelschalen. Auch wenn diese Handelstätigkeit gelegentlich auf persönlichen Gewinn abzielte, war sie doch zumeist Tausch, der ein überschüssiges gegen ein fehlendes Produkt eintauschte. Aber selbst der auf den Gewinn ausgerichtete, also kapitalistische Handel erfasste nicht die Gesellschaft, sondern war auf kleine Gruppen beschränkt.
Wir haben gesehen, dass der Abtransport von Rohstoffen – von Edelmetallen aus Amerika bis zu Gewürzen aus Asien – im Zentrum des frühen Kolonialismus stand. Er wurde später ergänzt um landwirtschaftliche Produktion durch Sklaven, Zwangsarbeiter oder abhängige Bauern in den Kolonien und durch Enteignung in Europa. In diesem Kontext müssen wir auch die Naturzerstörung innerhalb Europas betrachten. Im frühen Kolonialismus wurden die Wälder für den Bau von Flotten abgeholzt. Sodann wurde Natur in landwirtschaftliche Produktionsstätten verwandelt, sowohl für die Viehzucht als auch für den Ackerbau. Das taten zwar auch andere Gesellschaften, aber nicht in einem derartigen Ausmaß. Schließlich explodierten die Ausbeutung der Ressourcen und die Verschmutzung von Luft, Wasser und Erde mit der industriellen Revolution. Schon Adam SmithSmith, Adam beschrieb 1776 die systematische Ausbeutung der Natur zum Zwecke des Gewinns.1
Die Ausbeutung von Rohstoffen und Landnahme sind bis heute zentrale Elemente des Kapitalismus. Die gesamte industrielle Produktion beruht auf Rohstoffen, aber auch viele unserer Lebensgrundlagen – Wasser, Wohnraum, Nahrungsmittel – sind nur über den Eintritt in das kapitalistische System zugänglich. Selbst indigene Dörfer, die im Urwald leben, dürfen immer weniger Pflanzen aus ihrer Umgebung nutzen. Großunternehmen schicken Forscher in alle Teile der Welt, um die Nutzung von Pflanzen zu dokumentieren, die dann im Namen des Großunternehmens patentiert werden; eine Nutzung ist nur noch gegen Zahlung einer Gebühr möglich.2
Ohne die nahezu kostenlose Aneignung der Natur fiele das Wirtschaftswachstum des Kapitalismus sehr gering aus. Die Ausbeutung der Natur hat vermutlich mehr zum Wachstum beigetragen als die Technologie, wie die Tabellen 1 und 2 nahelegen. Tabelle 1 zeigt auch, dass und in welchem Maße die Ausbreitung des Kapitalismus mit der Zerstörung der Natur einhergeht. Die Korrelation zwischen Ressourcenverbrauch, Naturzerstörung und Wirtschaftswachstum weltweit ist eindeutig. Sie beruht auf dem Kapitalismus.
1850 | 1900 | 1950 | 2010 | |
CO2-Ausstoß Mio. t | 100 | 2000 | 8000 | 32000 |
Wasserverbrauch in Mrd. m3 | 600 | 1200 | 4000 | |
Aussterbende Amphibienarten |
<0,1%
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