Die kapitalistische Gesellschaft. Boike Rehbein

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Название Die kapitalistische Gesellschaft
Автор произведения Boike Rehbein
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846357651



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mit dem Nationalstaat, dessen Finanzen sich teilweise im Besitz von Großeigentümern und Privatbanken befinden. Diese Entwicklung begann in den oberitalienischen Stadtstaaten um 1200, vollendete sich aber erst in England um 1700. Das Großeigentum und die Banken befanden sich in dieser Phase fast vollständig in den Händen der Aristokratie. Der Fernhandel, der als Kern des damaligen Kapitalismus betrachtet werden kann, wurde vom Staat geschützt und von Großeigentümern und Banken finanziert. Der Staat wiederum finanzierte sich zunehmend über Anleihen, die über Banken organisiert und von Großeigentümern besessen wurden. Mit der Entstehung des Nationalstaats wurde der Staatsapparat Teil des Fernhandels, der sich mit dem Kolonialismus verband. Während der italienische Fernhandel Privatangelegenheit blieb und der spanische Kolonialismus Sache des Monarchen war, entwickelte sich der englische Kolonialismus als Zusammenarbeit zwischen Privatkapital und Staat.

      Dann erst wurden Marktwirtschaft und Demokratie eingeführt, und zwar Schritt für Schritt. Die ersten Demokratien in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten schlossen zu Beginn die große Mehrheit der Bevölkerung aus – Arme, Arbeiter, Frauen, Sklaven und Ausländer. In vielen westlichen Staaten haben Frauen erst Mitte des 20. Jahrhunderts die vollen Bürgerrechte erhalten, Afro-Amerikaner in den USA erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie hatten dementsprechend nicht die gleichen Möglichkeiten, am Wirtschaftsleben zu partizipieren, wie die Bürger, zumal die ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen auch kein Recht hatten, Verträge zu schließen. Der Markt mit vollem und gleichem Wettbewerb wurde nur sehr unvollkommen und teilweise nur in einzelnen Branchen verwirklicht. Für Anwälte, Ärzte, Schornsteinfeger und viele andere Berufe gilt in Deutschland bis heute das Prinzip der mittelalterlichen Gilde, nach dem für die Teilnahme am Wirtschaftsleben eine Mitgliedschaft im Berufsverband erforderlich ist, der jedem Mitglied wiederum einen quasi-monopolistischen Tätigkeitsort zuweist. Das ist das Gegenteil eines Marktes.

      Es ist wichtig festzuhalten, dass die Einführung von politischer und ökonomischer Gleichheit erst geschah, nachdem das kapitalistische System schon etabliert und das Kapital in einer kleinen Gruppe von Menschen konzentriert war. Wegen der extrem ungleichen Ausgangsbedingungen blieb das Kapital bis heute konzentriert. Ein echter Wettbewerb und soziale Mobilität sind historisch nur zu beobachten, wenn massive politische oder ökonomische Umwälzungen stattfanden, beispielsweise eine Revolution, Krieg, politische Interventionen, die industrielle Revolution, wissenschaftliche Organisation der Produktion oder die Digitalisierung. Da das Kapital aber zu jedem Zeitpunkt innerhalb einer kleinen Gruppe konzentriert war, hatte jede Umwälzung im Wesentlichen das Resultat, dass einige der Erneuerer in die Gruppe der Kapitaleigner aufstiegen, diese und die Gesamtstruktur der Gesellschaft aber unverändert blieben. In den Ländern, die den Kapitalismus erst später einführten, fallen die Einführung von Kapitalismus, von freiem Markt und von Demokratie nahezu zusammen oder sind teilweise in ihrer Abfolge verändert. Daher ist es während der Umwälzungen in ihnen oft zu höherer sozialer Mobilität gekommen, aber das Prinzip ist mittlerweile in allen Staaten der Erde identisch.

      2.11 Kapitalismus und Markt

      Vom staatlich organisierten und regulierten Markt und vom Kapitalismus ist der Markt im eigentlichen Sinne zu unterscheiden, der lokal organisierte Wochenmarkt.1 Dieser Markt kann als Wettbewerb funktionieren, aber in vielen Weltregionen teilen noch heute die Anbieter am Ende des Tages den Gesamtgewinn unter sich auf. Normalerweise sorgt die Gemeinschaft dafür, dass alle überleben, obwohl das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sowie der Wettbewerb die Preise bestimmen. Die Gemeinschaft betreibt eine soziale Wirtschaft, die auch in kapitalistischen Gesellschaften Grundlage der Reproduktion ist. Sie umfasst Kindererziehung, Arbeit in der Familie, Hilfe von Freunden, Betreuung von Pflegebedürftigen, Produktion (beispielsweise von Obst) für den Eigenbedarf, direkten Tausch und ähnliche Tätigkeiten. Ohne sie könnte eine kapitalistische Gesellschaft gar nicht existieren.

      Wir meinen, die Wirtschaft umfasse alle produktiven und damit lebensnotwendigen Aktivitäten und sei im Dienst der Konsumenten als Markt organisiert. Aber der größte Teil der Wirtschaft findet außerhalb von Marktwirtschaft und Kapitalismus statt. Wer hilft nicht dem Nachbarn beim Dachausbau, dem Freund beim Umzug, der Tochter bei den Hausaufgaben und der Tante bei der Ausrichtung eines Festes? Wer schenkt nicht der Lehrerin einen Korb voller Äpfel vom eigenen Baum und dem Arbeitskollegen einen Plan zum Fliesenlegen? All diese Tätigkeiten sind produktiv und geldwert. Sie können prinzipiell als Komponenten der Wirtschaft auch gegen Bezahlung geleistet werden. Wenn man die reproduktiven Tätigkeiten wie Kindererziehung und Haushalt einbezieht, so zeigt sich, dass der größte Teil der Wirtschaft selbst in westlichen Gegenwartsgesellschaften immer noch außerhalb der staatlich organisierten Marktwirtschaft und außerhalb der Geldwirtschaft stattfindet. Das gilt erst recht für Gesellschaften des globalen Südens, in denen Subsistenzwirtschaft noch eine große Rolle spielt.

      Neben der sozialen Wirtschaft müssen wir den Markt im alltäglichen Sinne von der Marktwirtschaft und vom Kapitalismus unterscheiden. Der Bäcker an der Ecke ist kein Kapitalist, sondern in erster Linie Marktteilnehmer. Er mag qualitativ schlechtes Mehl verwenden und überhöhte Preise verlangen. Aber er bestreitet von seinen Einkünften lediglich seinen eigenen Lebensunterhalt. Mit Ihrem Einkauf für den Eigenbedarf bezahlen Sie gleichsam seinen Einkauf für den Eigenbedarf. Ein großer Teil der Wirtschaft ist so aufgebaut – als Markt. Mehrere Anbieter konkurrieren über den Preis – und die Qualität – um Kundschaft. Ist das in einem nationalstaatlichen Rahmen organisiert, können wir von Marktwirtschaft sprechen. Davon zu unterscheiden ist der Kapitalismus, in dem es nicht um Produktion und Lebensunterhalt, sondern um Profit und Kapitalakkumulation geht. Dafür steht ein eigener Bereich der Wirtschaft zur Verfügung, der sich zunächst nur auf den Handel, Finanzen und die Ausbeutung der Kolonialgebiete beschränkte und sich dann zunehmend auf die europäischen und schließlich auf alle Gesellschaften ausdehnte. Der Staatsapparat dient in erster Linie dazu, diesen Bereich zu organisieren und zu schützen. Der Markt im oben genannten Sinne bedarf kaum einer Regulierung, da die Kundschaft dem im Beispiel erwähnten Bäcker den Rücken kehrt, wenn die Relation zwischen Preis und Qualität zu schlecht wird.

      Der Markt und die soziale Wirtschaft haben wenig mit Marktwirtschaft und Kapitalismus gemeinsam. Sie werden „von unten“ organisiert, dienen dem Überleben, sind nicht auf Profit ausgerichtet und implizieren keine Klassenherrschaft. Sie zeigen auch deutlich, dass der Kapitalismus keine Produktionsweise ist, die der Reproduktion der gesamten Gesellschaft dienen soll. Vielmehr lebt der Kapitalismus gleichsam als Parasit vom Markt und von der sozialen Wirtschaft. Er beherrscht und verändert diese, ersetzt sie aber nicht.

      Die Koexistenz von Markt, sozialer Wirtschaft und Kapitalismus organisiert der Staat unter der Kategorie der Nationalökonomie, Volkswirtschaft oder Marktwirtschaft. Durch die Kategorie wird suggeriert, dass der Kapitalismus eine Wirtschaftsform sei, eine Produktionsweise, die eine hohe Effizienz aufweist und im Dienst der Bevölkerung steht. Tatsächlich muss der Staat die Wirtschaft organisieren, weil ein reiner Kapitalismus zum sofortigen Verhungern der meisten Menschen führen würde. Denn die Arbeiter würden minimale Löhne erhalten, lebensnotwendige Sektoren würden mangels Profitchancen eingestellt, Arbeitslose bekämen kein Geld und die Vermögenskonzentration wäre noch extremer, als sie es heute schon ist.

      Wenn heutzutage vom Markt oder von Marktwirtschaft die Rede ist, meint man eigentlich Kapitalismus, rechtfertigt ihn aber durch Elemente von Markt und Marktwirtschaft. Würde man offen von Kapitalismus sprechen und zugeben, dass er dem gemeinschaftlich organisierten Wochenmarkt und der staatlich organisierten Konkurrenz der Marktwirtschaft widerspricht, wäre die Zustimmung zum System sehr gering. Da aber Wochenmarkt und Marktwirtschaft prinzipiell gut funktionierende und allgemein akzeptable Institutionen sind, suggerieren Politik, Großunternehmen und Medien, der Kapitalismus sei mit ihnen identisch, obwohl er ihre Aufhebung zum Ziel hat.

      Im Kapitalismus soll der Staat überall einspringen, wo kein Profit zu erzielen ist. Er finanziert die Ausbildung, die Infrastruktur und das Sozialsystem und kümmert sich um öffentliche Güter, die kein Privatunternehmen zu Verfügung stellen will. Gleichzeitig soll er die Bereiche dem „Markt“ überlassen, in denen ein Profit zu machen ist. Allerdings sind diese Bereiche eben kein Markt, sondern Orte kapitalistischer Monopolisierung. Fernand BraudelBraudel, Fernand erklärt: „Kapitalismus stützt sich nach wie vor auf legale oder faktische