Almas Rom. Patrizia Parolini

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Название Almas Rom
Автор произведения Patrizia Parolini
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302410



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und traten, durch die mittlere der drei Wohnungstüren, direkt in die Küche ein. Nazzarena, die Gouvernante, stand am Kochherd. Die schwarzen Röcke unter der weissen, spitzenbesetzten Schürze standen von ihren Hüften ab wie eine grosse Glocke. Ihr gutmütiges Gesicht war umrahmt von dichtem, pechschwarzem Haar, das in einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden war. Nazzarena klatschte die Hände zusammen und starrte die Flecken auf den Sonntagskleidern der Kinder an: «Mamma mia!»

      Alma sah, wie sie mit sich rang und nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Bis Folco die Arme nach ihr ausstreckte, Nazzarena ihn auf den Arm nahm und die anderen Kinder, lachend und schimpfend zugleich, ins Badezimmer dirigierte. Derweil erzählten ihr diese schwärmend von den Zauberkünsten der fata bianca und der Fahrt mit der Tramway.

      Alma verschwand unbemerkt in ihr Zimmer.

      IV

      Über die Via Cavour habe ich die Basilika Santa Maria Maggiore erreicht. Dahinter beginnt die Via Merulana. Sie führt schnurgerade zur Basilika San Giovanni in Laterano hinunter. Von dort aus sind, über die Aurelianischen Stadtmauern und die Bogen der antiken Wasserleitungen hinweg, die Albaner Berge sichtbar. Im oberen Teil der Via Merulana steht der Palazzo Brancaccio. Hinter ihm erstrecken sich dessen riesige Gartenanlage und die Reste der Trajansthermen. Weiter unten befindet sich das Goldene Haus von Kaiser Nero im Parco del Colle Oppio mit seinen hohen Palmen und Zypressen, der zu einem meiner Lieblingsorte in Rom wird. Von da aus sieht man das Kolosseum unten am Fuss des Hügels, das seit fast zweitausend Jahren, zwar halb zerfallen, doch immer noch aufrecht dasteht. Im Rücken des Vittoriano.

      Ich hatte den Stadtplan genau studiert. Nach dem Palazzo Brancaccio musste die Kaffeebar sein. An der Ecke zur Via Mecenate. Ich war aufgeregt, neugierig, und ich brauchte einen starken caffè. Den ich jetzt in zwei Schlucken hinunterstürze. Das dazu servierte Wasser ist frisch und gut. Ich behalte das kühle Glas in den Händen, bestelle einen zweiten Kaffee und setze mich draussen an einen Tisch. In meinem Blickfeld der Hauseingang. In den Blättern über mir das Rascheln des Windes.

      Wann hatte ich gemerkt, dass ich nichts wusste von Alma, meiner Grossmutter? Ausser an die Beerdigung habe ich eine einzige ferne Erinnerung an eine zerbrechliche Gestalt, die in der Küche sass, in einem Sessel, eine selbstgestrickte Decke über den Knien, und nie sprach. Wie ein verblasstes Foto, auf dem nur noch die Umrisse erkennbar sind. Wie konnte ich mehr über sie erfahren, über den Ort und die Zeit, in die sie hineingeboren worden war? Solange ihre jüngeren Geschwister noch lebten, hätte ich diese fragen können, doch als Jugendliche interessierte mich das alles nicht. Warum denn jetzt diese Suche nach den Vorfahren? Hatte die Krankheit diese Sehnsucht ausgelöst? Die Erfahrung, physisch und psychisch an Grenzen zu stossen? Das Ringen nach Halt im Zerfleddern des Körpers, im bodenlosen Dahinfallen der Seele? Eine Ahnung der Endlichkeit des irdischen Lebens, die mich aufrüttelte?

      Rom, Stadtplan (Ausschnitt)

      aus Baedeker, Karl: Handbuch für Reisende, Mittelitalien und Rom, Leipzig, 1908.

      Ich bemerkte auch, dass Alma auf keinem meiner Kindheitsfotos abgebildet ist. Nur der weisshaarige Attilio. Warum nur? Hatte sie nicht dabei sein wollen an meiner Erstkommunion? Oder hatte man sie nicht eingeladen? Ich war entrüstet. Sie war halt alt. Aber Grossmütter sind alt! Ich begann, Fragen zu stellen. Meinem Vater, seiner Schwester und seinem Bruder, Almas Kindern.

      Und jetzt bin ich da, um den Ort und die zie erzählen zu lassen.

      Auf einmal fällt mir auf, dass andauernd Leute auf die Klingelknöpfe am Hauseingang drücken und dann das hohe Eingangsportal aufspringt. Wenn auch ich das Haus betreten könnte? Ich fasse mir ein Herz und beschliesse, die Nächsten, die eintreten, anzusprechen. Es sind zwei junge Männer, die zu meiner Überraschung sehr zuvorkommend reagieren und mich, als ich den Grund für mein Hiersein schildere, mit hinauf nehmen. Die Wohnung im ersten Stock habe ein Chinese gekauft und daraus eine Pension gemacht, erzählen sie mir. Und, was für ein Zufall, einer der jungen Männer ist der gerente – der Geschäftsführer. Ich darf einen Blick in jedes der zahlreichen hohen Zimmer werfen, in die Küche, in den engen Innenhof. Ich kann fast nicht fassen, dass ich so unverhofft in Almas Wohnung stehe. In Cristoforos Wohnung. Für andere Enkelkinder mag dies eine Selbstverständlichkeit sein. Ja, im Haus der anderen Grossmutter ging ich auch jahrelang ein und aus. Aber j etzt bin ich sprachlos und emozionata, molto emozionata.

      V

      Die Absätze seiner Schuhe klopften auf das Kopfsteinpflaster. Im gleichen Takt hämmerten sich die Worte in seinen Schädel: «Cristoforo, du bist krank, schwer krank. Du bist krank, …» Er kehrte von der Sprechstunde zurück. Der Hausarzt in seinem weissen Kittel hatte von esaurimento gesprochen, Erschöpfung. «E-sau-ri-men-to, e-sau-ri-men-to, …», dröhnte es in seinem Kopf, und er fürchtete, die ganze Stadt könnte die Diagnose mithören. Sein Magen war flau, seine Schritte schwer und langsam.

      Dottor Venditti hatte ihm noch drei Monate gegeben. «Du musst aufhören, hörst du!»

      Das war gnadenlos. Drei Monate! Dottor Vendittis Hand auf seiner Schulter war ein Hohn gewesen, keine Aufmunterung, wie er es vielleicht gemeint hatte. «Kehr zurück in die Heimat! Die Bergluft wird dir gut tun.»

      Zurück in die Heimat? Cristoforo lachte auf, der Arzt hatte gut reden. Was sollte er dort? Wie sollte er sieben Kinder durchbringen? Seine Existenz in Rom aufgeben? Und wenn er trotz allem nicht genesen würde? Ein kalter Schauer raste über seinen Rücken. Die Härchen seiner Unterarme stellten sich auf. Es protestierte in ihm. Das ist nicht wahr! Das will ich nicht! Er schüttelte sich.

      Die letzten Sonnenstrahlen waren die Hausfassaden hinaufgekrochen und schwanden über der Stadt, als Cristoforo am Haustor anlangte. Er legte seine Hand auf das warme Holz und lehnte seine Stirn daran. Über ihm der Türklopfer, ein grimmig blickender bronzener Teufelskopf. Ihm war schwindlig, und trotz der Hitze fror er am ganzen Körper und zitterte. Mücken sirrten um seine Ohren, ihm fehlte die Kraft, sie fortzuscheuchen. Auf einmal tauchte Anna auf in seiner Erinnerung. Wie sie sich an ihm vorbeidrückte. Ihr noch schlanker Körper an seinem ausgestreckten Arm, mit dem er ihr das Eingangstor aufhielt. Ihr Eau-de-toilette hatte nach Zitronenblüten geduftet. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Cristoforos Lippen. Er sah, wie sie lachte und davoneilte ins dunkle Innere. Am Treppenabsatz hatte er sie eingeholt, ihre Hand gestreift und war dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinaufgestürmt. Auf dem Boden des ersten Stockwerks hatte er sich mit einem beschwingten Hüpfer zu ihr hingedreht.

      Und jetzt schleppte er sich hinauf, von Stufe zu Stufe. Die rechte Hand krampfte sich um den Handlauf des Treppengeländers. Er versuchte, seiner weichen Knie Herr zu werden. Nichts war mehr da von der sprühenden Kraft seiner Jugend. Von der Begeisterung von damals, im Dezember 1892, eine Woche nach seiner Hochzeit mit Anna. Mit ausgebreiteten Armen hatte er auf sie gewartet, während sie, ihre langen Röcke raffend, erwartungsvoll die letzten Stufen hinaufgestiegen war.

      Das Haus war einige Jahre davor erbaut worden, mitten in den goldenen Jahren des römischen Baubooms. Es war sehr modern gewesen. Die Küche war mit einem neuartigen Holzkohleherd mit drei Kochvertiefungen und Grillgitter ausgestattet, es gab fliessendes Wasser in Küche und Bad und überall elektrisches Licht. Anna hatte gegluckst vor Freude. Voller Stolz hatte er ihr die neue Wohnung vorgeführt. Es war ja schon ein bisschen verrückt gewesen. Nach seiner Ankunft in Rom hatte er sich mit dem Einsammeln von Zigarettenstummeln für wenige centesimi über Wasser gehalten, vierzehn Jahre später hatte er sich den Kauf dieser Wohnung leisten können.

      Siebzehn war er gewesen, als er das elterliche Dorf zusammen mit seinem älteren Bruder Edgardo verlassen hatte. Ohne Mittel waren sie, die beiden jüngsten von elf Geschwistern, dem euphorischen Ruf vorausgegangener Landsleute gefolgt. Froh, dass sie nicht nach Übersee hatten auswandern müssen wie die anderen Brüder. Sie waren nach Rom gereist mit der Bereitschaft, für ein besseres Leben auch ganz unten anzufangen, und mit dem unerschütterlichen Willen, es zu etwas zu bringen. Zehn Jahre später hatte das Geschäft im Erdgeschoss des Neubaus ihm und seinem Bruder gehört: Bar e liquoreria, forno e drogheria – Bar, Bäckerei und Gemischtwarenladen.