Almas Rom. Patrizia Parolini

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Название Almas Rom
Автор произведения Patrizia Parolini
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302410



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in den Himmel strebenden Nadelwolken und spürte einen Stich in ihrem Herz – hier hatte sie Antonio getroffen!

      Bis hierhin hatten alle geschwiegen. Aber jetzt rannten die Kleinen schreiend los, quer über das Feld. Unten ratterte die Tramway am Kolosseum vorbei, Kutschen fuhren auf und ab, die Hufe der Pferde klapperten auf den Pflastersteinen, ein Automobil brummte und holperte über den Platz. Einheimische spazierten auf den Strassen, fremdländische Touristen bewunderten das weltliche Wahrzeichen Roms. Nachmittags war das Monument ab drei Uhr geöffnet, sonntags war der Eintritt frei. Die Kleinen stürmten Stufe um Stufe hinauf, während Giacomo auf Mutter wartete, die keuchend die Treppen emporstieg.

      Der Lieblingsplatz von Alma und Attilio war die zweistöckige Halle im vierten Stockwerk. Von hier aus sah man unter sich die verfallenen Tribünen und das Oval der Arena und ausserhalb des Amphitheaters die südlich gelegenen Hügel der Stadt. Auch die Pyramide in San Saba und die Wasserleitung, die auf den Monte Palatino zuführte, die Aqua Claudia.

      Als sie zurückkehrten, durchfuhr es Alma wie ein Blitz: Strohhut, schwarze Locken. War das Antonio am Zeitungsstand von sor Augusto? Alma wurde es leicht ums Herz. Sie merkte, wie sie errötete. Sie grüsste und tat, als ob nichts wäre. Doch noch im Treppenhaus kehrte sie unter dem Vorwand, Rachele zu besuchen, um und eilte wieder nach unten.

      «Ah, da ist die Liebste ja!», unterbrach sor Augusto das Gespräch mit Antonio, als sie den Kopf zum Haustor hinausstreckte.

      Alma hob den Zeigefinger an den Mund.

      «Was für ein geeigneter Zeitpunkt!», spöttelte er und gab Antonio einen Klaps auf die Schulter.

      «Alma!» Antonio schaute sich um, nahm ihren Arm und zog sie ein Stück die Via Merulana hinunter, dann bogen sie in eine Seitenstrasse ein. «Haben Sie gehört? Der Flug über Bengasi, der erste Bombenabwurf? Wir haben Tripolitanien erobert! Wir werden bald die Herren über Ostafrika sein!» Antonio war ganz aufgeregt. «Wissen Sie, dort gibt es so viel fruchtbares Land. Unsere Leute werden nie mehr so weit weg wie nach Amerika auswandern müssen. Es wird neue Arbeitsplätze geben!» Er rückte seinen Strohhut zurecht.

      Alma blickte ihn verständnislos an: Was interessierte sie Bengasi? «Pah, auswandern! Ich müsste die Stadt nicht verlassen, wenn meine Eltern keine Auswanderer wären», erwiderte sie ungehalten.

      «Oh», er blickte sie aus seinen dunklen Augen an. Lange. Nachdenklich. «Sie wären nicht hier, wenn Ihre Eltern nicht ausgewandert wären!»

      «Was nützt das, wenn ich trotzdem gehen muss?» Alma liess den Kopf hängen. «In drei Tagen brechen wir auf.»

      Antonios Lächeln verschwand. «Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder!», gab er leise zurück.

      Sie nickte, blieb stehen.

      «Sie kommen ja bald zurück! Oder?» Seine Stimme tönte eindringlich.

      «Ja, sicher!» Sie blickte in seine Augen und versuchte zu lächeln. Sie konnte ihre Tränen nicht verbergen. Sie schämte sich, das Lächeln geriet zur Grimasse. Sie schaute weg, strich mit der Hand über seinen Arm, nahm seine Finger, liess sie wieder los und kehrte um. Es war wieder da, das entsetzliche Reissen in ihrer Brust.

      Am Tag darauf holten die Männer von Fratelli Gondrand Möbel und Hausrat, Kisten und Koffer zum Transport in die Schweiz ab. Folco musste sich von der Hälfte seiner Spielsachen trennen und Alma Antonios Buch den fremden Händen mitgeben. Zurück blieben weitgehend leere Räume.

      XXIX

      Das letzte Mal. Alma stand in der leergeräumten, blank gescheuerten Wohnung. Nazzarena schnäuzte sich die Nase, und es hallte. Mutter kontrollierte jedes Zimmer.

      Bei zia Ludovica assen sie zu Abend. Die Tante redete pausenlos. Sie ermahnte den Bruder, das Wässerlein der Heilerin, die sie wegen ihm aufgesucht hatte, regelmässig einzunehmen, und erklärte ihrer Schwägerin, wen sie in der Heimat grüssen und an wessen Grab sie gelbe Chrysanthemen niederlegen solle. Anna nickte, Cristoforo sass zusammengesunken auf seinem Stuhl und hörte schweigend zu. Die Kleinen waren unruhig. Alma hatte keinen Hunger.

      «Sempre bene nun se pò sta, sempre male nemmeno», trompetete zia Ludovica unbekümmert und zündete sich eine Zigarette an – «auch deine Beschwerden werden vorübergehen, Cristoforo!» Sie blies den Rauch über den Tisch aus.

      Angewidert drehte Alma den Kopf weg. Sie war erleichtert, als es endlich vorwärtsging und der Transportkarren mit ihrem Reisegepäck beladen wurde. Die Pferde reckten ungeduldig die Köpfe, das Pferdegeschirr klirrte. Der Himmel färbte sich goldrot, hier und da lösten sich ein paar gelbliche Blätter von den Platanen am Strassenrand und schaukelten sachte zu Boden.

      Cristoforo setzte sich mit Folco in die Kutsche. Sein Blick war finster, grübelnd, die Stirn in Falten gezogen. Was taten sie da? Hatte es einen Sinn, alles zurückzulassen, was er aufgebaut hatte? Seit Edgardo weggegangen war, hatte er sich für alles und alle verantwortlich gefühlt. Zu viel? Viel zu viel? Zwecklos, jetzt darüber zu sinnieren. Er hatte erfolgreich gewirtschaftet und dabei seine Gesundheit zerstört. Das war bitter. Sehr bitter. Er schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und strich sich mit der Hand übers Gesicht. Zum Abschied waren alle gekommen, Landsleute, Mitstreiter über lange Jahre, Begleiter von damals. Das half. Langsam tauchte Cristoforo aus seiner Gedankenwelt auf.

      Um ihn herum herrschte herzzerreissende Aufregung. Ihm wurde die Hand geschüttelt und auf die Schultern geklopft. Nachbarn, liebe und mühsame, treue Kunden, Monsignori in Schwarz und Mönche in Kutten, der pizzicarolo und der Milchmann von weiter unten, der magenkranke Pippo, der die Filiale an der Via Machiavelli führte, Alberto, der Gastgeber, und Giulio, der Jude. Zia Ludovica und Tiziano, die Kellner und Bäcker, sor Augusto und die Eierverkäuferin, Dottor Venditti und die beiden älteren Damen vom Haushaltgeschäft gegenüber. Und auch le monache – die Nonnen – und die Eltern von Rachele und anderer Schulkameraden der Kinder. An diesem Tag waren alle, die gekommen waren, ans Herz gewachsene Freunde, zurückbleibende Gefährten auf einem wichtigen Stück Lebensweg. Cristoforo seufzte. Er wollte gehen, endlich. Tun, was zu tun war. Das Unausweichliche.

      Auch Alma schüttelte Hände und nahm Glückwünsche und Gottes Segen entgegen. Sie umarmte Rachele, Marianna, Rosa und Angela. Tränen flossen. Dann stieg sie mit geröteten Augen in die Kutsche und nahm einen der Körbe mit der Reiseverpflegung auf die Knie. Romeo setzte sich neben den Vater, Tränen rannen über sein Gesicht. Vater legte seinen Arm um ihn. Auch Mutter stieg auf. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Sie setzten sich in Bewegung. Vorbei am monte, wo der Jasmin dunkelrote Früchte trug, am Palazzo Brancaccio, am Kleidergeschäft gegenüber Santa Maria Maggiore.

      Alma sog den Duft der caldarroste ein, der noch in der Luft lag. Sie winkte den Menschen vor der Bar zu, die kleiner und kleiner wurden. Bis sie abbogen und niemand mehr zu sehen war. Sie fühlte sich verloren, ihr Mund war ausgetrocknet, ihr Magen flau. Ihre anderen Geschwister sassen mit Nazzarena und Clemente auf dem Karren, der ihnen folgte, zwischen Koffern und Reisebündeln, mit baumelnden Beinen.

      Die Kutsche ratterte in der Abenddämmerung über die Piazza dei Cinquecento, vorbei am kleinen Obelisken, dem Denkmal von Dogali, der an die in Abessinien getöteten italienischen Soldaten erinnerte. Auf der Piazza wurden die Strassenlaternen angezündet. Das Licht war gedämpft, die Konturen der Palazzi weich. Auf der anderen Seite des Bahnhofsgebäudes, bei den partenze, wo die Züge abfuhren, hielten sie. Der Kutscher half Cristoforo aussteigen. Dieser klaubte ein paar Münzen aus der Hosentasche und drückte sie dem Kutscher und den herbeieilenden Gepäckträgern in die Hand. Mit deren Hilfe trugen sie die sechs grossen Koffer durch die russgeschwärzte Abfahrtshalle zum Bahnsteig.

      Auch die Kinder bekamen ein Stoffbündel in die Hand gedrückt, das sie tapfer mit sich schleppten. Mutter war es bereits auf dem Weg zum Bahnhof übel geworden. Mit der einen Hand presste sie ein Taschentuch auf den Mund, mit der anderen nahm sie Giacomos Hand. Alma packte Pietro und Folco am Arm, Irene und Attilio trugen die Verpflegungskörbe. Romeo half Clemente beim Koffertragen.

      In der beleuchteten Bahnhofshalle kam sich Alma vor wie in einem Wespennest. Reisende eilten nervös zum Bahnsteig,