Название | Jonas bleibt |
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Автор произведения | Arja Lobsiger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302298 |
Jonas, der mit Paul das Zimmer teilte, beobachtete sie von seinem Bett aus. Er sah die Nähe zwischen den beiden, fühlte sich leer und wollte diese Leere mit Musik füllen. Also begann er zu singen und zu pfeifen. Er erfand Lieder, deren Melodien er gleich wieder vergass.
Die Mutter schwieg, und Paul schlief trotzdem immer ein. Manchmal schlief auch die Mutter ein.
Als Paul in die Schule kam, wollte er nicht mehr an der Brust der Mutter nuckeln. Abends war er müde und schlief auf dem Sofa ein. Er ging gerne zur Schule und hüpfte vor Vorfreude bereits am Sonntagabend durch die Wohnung. Jonas’ Mutter begann, Pauls Lieblingsgerichte zu kochen, wenn er von der Schule nach Hause kam. Jonas wusste, dass Paul gerne zur Schule ging, weil er in seine Lehrerin vernarrt war.
Dieses Bild, Paul an der Brust seiner Mutter, sah Jonas im vergangenen Herbst auf dem Friedhof wieder vor sich, als sein Bruder vor ihm stand. Er hatte das seltsame Gefühl, ihn gleichzeitig beschützen und von sich wegstossen zu wollen. Paul streckte ihm die Hand entgegen und nickte ihm zu. Jonas, der sich vor der Begegnung gefürchtet hatte, war überrascht, wie knochig und kalt sich die Hand anfühlte. Er suchte in Pauls Gesicht nach dem kleinen Bruder, der er einmal gewesen war. Aber er sah nur ein Gesicht, welches ihn an eine von Wasser gezeichnete Landschaft erinnerte. Und die Hand in seiner Hand wurde zu einem Lammrack. Er sah es neben anderen Fleischstücken in der Theke der Metzgerei liegen. Angewidert zog Jonas seine Hand zurück. Paul schaute ihn erschrocken an, als wäre etwas auf dem Fussboden zerschellt.
Der Nebel zwischen den Tannen des Friedhofs löste sich langsam auf. Die Sonne blendete Jonas, und er schwitzte unter seinem Jackett. Er wünschte sich, dass es anfing zu regnen. Ohne Alice fühlte sich Jonas verloren. Seit sie verheiratet waren, war er noch nie ohne sie zu einer Beerdigung gegangen. Sogar an Hannas offenem Grab hatte sie neben ihm gestanden.
Jonas sah sich nach Juna und Etna um. Von Weitem sah er Juna neben seiner Mutter stehen, die auf einem Stuhl am offenen Grab sass. Seine Mutter war in sich zusammengesunken und sah noch kleiner aus als sonst. Seit Alice’ Verschwinden hatte er seine Eltern nicht mehr im Altersheim besucht. Juna stand neben ihr, als wäre sie eine Kundin in ihrem Friseursalon. Eine Hand hatte sie ihr auf die Schulter gelegt. Sie schien ihr etwas zu erzählen, blickte dabei in die Ferne und lächelte. So ist sie. Juna, die sich um alles kümmert. Sogar am Grab ihres Grossvaters schien sie die Sorge um andere Menschen mehr zu bewegen als der Verlust eines Familienmitgliedes. Nur Etna war nicht gekommen.
Immer mehr Menschen strömten auf den Friedhof. Eine Schlange aus dunklen Stoffen bewegte sich auf das Grab zu. Jonas konnte sich nicht rühren, aus seinen Beinen war jede Muskelkraft gewichen, sie waren bleischwer. Automatisch nahm er die Hände, die ihm entgegengestreckt wurden, und nickte den Gesichtern zu. Diesen weissen Flächen, die sich über den schwarzen Stoffen hin- und herbewegten. Jonas blinzelte, aber die Gesichter blieben Flächen, ohne wiedererkennbare Strukturen. Niemand fragte nach Alice. Für alle anderen schien sie nicht mehr zu existieren. Später stolperte Jonas der Schlange hinterher und erreichte sie, als sie bereits einen Kreis um das Grab seines Vaters gebildet hatte. Dicht an dicht standen die Menschen, Jonas fand keinen Platz für sich. Er konnte kaum atmen, konnte nicht ruhig stehen. Der Pfarrer sprach von seinem Vater oder dem heiligen Vater im Himmel, das wusste Jonas nicht genau. Wie man einen Metzgermeister und Gott im gleichen Satz erwähnen konnte, war ihm ein Rätsel. Sein Vater war kein gläubiger Mensch gewesen. Am Sonntag ging er lieber in die Metzgerei hinunter als in die Kirche. Nicht, um zu arbeiten, sondern um auf einem Stuhl zu sitzen und Radio zu hören.
Jonas lief um den Kreis der Trauergemeinde herum und stellte sich vor, er sei die Zeigerspitze einer Uhr. Die Worte des Pfarrers wurden zu einem Gemurmel, das vom rhythmischen Schnäuzen und Schniefen der Menge getragen wurde.
Der Pfarrer schwieg. Taschentücher und Blumen wurden hin- und hergereicht. Die Schlange bewegte sich in Richtung Ausgang. Nur Juna und Jonas’ Mutter, die immer noch auf dem Stuhl sass, blieben zurück.
Jonas ging zu seiner Mutter, die noch immer mit starrem Blick vor dem Grab seines Vaters sass. Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Wangen. An seinen Lippen blieb die Feuchtigkeit ihrer Tränen hängen.
Er wollte etwas Tröstendes zu ihr sagen. Aber welche Worte konnten seine Mutter erreichen? Immer mehr hatte sie sich in den letzten Jahren in sich zurückgezogen. Ihr Körper schrumpfte in sich hinein. Falten bildeten sich, als wollten sie etwas verbergen. Die Lippen waren nun immer gekräuselt. Die Augen zogen sich in ihre Höhlen zurück. Nur ihre Haare wurden weder lichter noch weisser. Jeder nahm an, sie färbe sie heimlich. Die langen braunen Haare überdeckten demnächst den ganzen Körper, als wären sie ihr Kleid.
Seine Mutter war schon lange eine alte Frau. Auf dem Stuhl am Grab seines Vaters wurde sie für Jonas zu einer Greisin. Jonas fand keine Worte für sie. Er sah ihr in die Augen. Er suchte ihren Blick. Sie war so fern. Wusste sie, wo sie war? Wusste sie, was geschehen war? Wusste sie, wer er war? Jonas drückte seine Nase gegen die ihre. Für einen Augenblick war er wieder Kind. Seine Mutter lächelte und nieste ihm ins Gesicht.
Juna reichte ihm ein Taschentuch. Jonas legte den Kopf in den Nacken und das Taschentuch aufs Gesicht. Er begann zu lachen. Er wusste, jetzt zu lachen, war falsch. Aber das Lachen gurgelte in seinem Hals. Er lachte lauter. Das Taschentuch flatterte von seinem Gesicht, segelte auf den Boden. Er krümmte sich, hielt sich den Bauch. Sein Körper wurde durchgeschüttelt vom Lachen, das unaufhaltsam aus ihm heraus schall. Als ob eine andere Person aus ihm heraus lachte. Und je mehr er versuchte, dies zu verhindern, desto lauter wurde er. Juna versuchte, ihn zu umarmen. Er wehrte sich, schob sie von sich weg. Sie zog ihn an sich, und er wurde ruhig.
17
Der Horizont erstreckte sich so weit, dass der Anblick Alice schwindeln liess. Eine Möwe flog gegen den Wind. Mit ruhigen Flügelschlägen. Zwei andere Möwen folgten dem Schiff. Alice beobachtete, wie sie kreisend und kreischend über dem Hinterdeck schwebten. In der Ferne sah sie einen der Vulkane. Ein aschgrauer Hügel. Darüber stand eine Wolkensäule. Sie schien sich nicht zu bewegen. Windstill musste es dort sein.
18
Der Fuchs verfolgt eine Spur, bewegt sich flink und gierig. Er läuft im Zickzack in Richtung Gartenhaus. Jonas wagt kaum, den Kopf zu bewegen, zu blinzeln. Aber er will sehen, was sein Besucher macht. Oder ist der Fuchs hier womöglich heimischer als er? Der Fuchs lässt sich von seiner Schnauze führen. Es sieht aus wie ein Tanz. Er geht am Gartenhaus vorbei weiter zu den Tannen. Er findet den alten Komposthaufen. Rasch klettert er hinauf und beginnt zu scharren. Er scharrt und schmatzt. Jonas fragt sich, was es dort zu fressen gibt. Seit Jahren hat er nichts mehr auf den Komposthaufen geworfen. Alles Essbare sollte schon längst zu Erde geworden sein. Erst jetzt sieht Jonas, dass der Fuchs dünn ist. Richtiggehend abgemagert wirkt er. Und während er mit einer Pfote im Kompost scharrt, droht er seitlich umzukippen, so zittrig steht er auf seinen dünnen Beinen. Jonas denkt an den letzten Winter, der kälter und länger als üblich gewesen ist. Das ist ihm nicht aufgefallen, aber Juna hat es während ihren Besuchen erwähnt. Die Eiskristalle an den Fenstern hat er nicht als Zeichen dafür betrachtet.
Der Fuchs beisst sich an etwas fest. Er hält es mit beiden Pfoten. Er beisst es durch. Es fällt auseinander. Jonas hört ein Knacken, als wäre es in seinem Kopf.
19
Alice beugte sich über die Reling. Beobachtete, wie sich die Wellen schäumend am Bug des Schiffes brachen. Möwen jagten dicht über der weissen Gischt dahin. So einfach war es gewesen: In den Zug steigen und sich wegbringen lassen. Als Alice noch auf dem Balkon stand, hatte sie es sich schwieriger ausgemalt. Zu gehen war eigentlich nur ein Beschluss. Alles andere konnte sie dem Lokführer, dem Chauffeur und jetzt dem Kapitän überlassen. Aber der Entschluss hatte sie viel Kraft gekostet. Und den Weg, den sie Flucht nannte, musste sie alleine gehen. Sah man ihr an, dass sie kein Rückfahrtticket hatte? Im Zugfenster suchte sie nach ihrem Spiegelbild, fuhr sich durchs Haar, strich mit beiden Zeigefingern unter den Wimpern hindurch. Die Tusche bröckelte. Sah sie verzweifelt aus? Erleichtert? Den anderen Passagieren schien das egal zu sein. Alice war dankbar,