Jonas bleibt. Arja Lobsiger

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Название Jonas bleibt
Автор произведения Arja Lobsiger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858302298



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etwas geahnt hätte? Bis jetzt war es Alice nicht wirklich bewusst gewesen: Sie befand sich auf der Flucht. Sie bewegte sich mit jedem Meter, den der Zug zurücklegte, weg von den Menschen und dem Ort, der jahrelang ihr Zuhause gewesen war. Immer weiter in die Namenlosigkeit. Noch zweimal umsteigen, dann würde sie auch das Land verlassen haben.

      Die Landschaft zog am Zugfenster vorbei. Etna und das Kind musste sie zurücklassen. Etna würde es vielleicht verstehen. Alice wollte ihr schreiben, sobald sie sich eingelebt hatte. Sie würde sie um Verzeihung bitten, dass sie sich in all den Jahren nicht um sie kümmern konnte. Ihr vorschlagen, jetzt, sofern es möglich war, noch einmal Teenager zu sein. Vielleicht war das ja einfacher für sie ohne die Mutter.

      Alice sah den Moment vor sich. Sie drückte Etna in der Eingangshalle an sich. Lehnte ihren Kopf an Etnas Schultern. Schloss kurz die Augen. Atmete den Duft ihrer Haare ein. Verabschiedete sich innerlich. Löste sich dann wieder von ihr. Etna durfte nicht bemerken, dass es ein ungewöhnlicher Abschied war.

       12

      Seit Etna ausgezogen ist, hat sie sich jeden Donnerstag um das Haus ihrer Eltern herumgedrückt. Manchmal sieht Jonas, wie sie aus ihrem schwarzen Auto steigt. Meist lässt sie den Motor kurz aufheulen und fährt sofort wieder davon. Steigt Etna aus dem Auto, ist sie in ihrem schwarzen Kostüm und mit den dunklen Haaren kaum von der Karosserie zu unterscheiden. Einzig ihre Fingernägel leuchten rot. Manchmal springt ihr wurstförmiger Hund aus dem Auto. Er schnüffelt in den Büschen, dann markiert er sie.

      Nie blickt Etna zum Fenster hoch, an dem ihr Vater steht. Sie will nicht nach ihrem Vater sehen. Sie sieht nach dem Haus, das ihre Mutter Alice ihr überschrieben hat. Trotzdem glaubt Jonas, in ihrem Gesicht Traurigkeit zu erkennen. Er ist sich sicher, dass sie nachts weint. Bei ihren Besuchen wirft sie Zettel mit der immer gleichen Botschaft über das Gebüsch in den Garten. Auf den Zetteln steht, wie viele Tage ihm bleiben, bis sie das Haus abreissen lässt. Jonas sammelt die Zettel und hängt sie mit Wäscheklammern an einer Schnur auf, die er durch sein Schlafzimmer gespannt hat. Kommt Wind auf, öffnet er das Fenster, legt sich auf sein Bett und schliesst die Augen. Das Rascheln der Blätter klingt wie das Flüstern von Etna.

      Seit ein paar Wochen tigert Etna fast täglich um das Grundstück herum. Das Aufheulen des Automotors ist in Jonas’ Ohren der Schrei eines angeschossenen Tiers.

       13

      Der Kapitän der Fähre hupte ein Motorboot an, das knapp neben dem Bug der Fähre vorbeiglitt, um von den grossen Wellen zu profitieren. Wegen den Sonnenbrillen sahen die Gesichter der Passagiere klein aus. Alice hatte sich auch eine gekauft, möglichst gross sollte sie sein. Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, nicht aufzufallen. Sie wollte nicht, dass jemand in ihrem Gesicht das Zimmer erkennen konnte, in dem jahrelang die Zeit stehen geblieben war.

      Ein junger Mann mit seidiger Haut und weissen Zähnen hatte ihr die Brille verkauft. Ein Händler, der auf dem Holzsteg im Hafen Sonnenbrillen, Taschen und Schmuck auf einem farbigen Tuch anbot. Er lächelte sie an und nickte aufmunternd, als sie nach einer Sonnenbrille griff. Seine Augen erinnerten Alice an Jonas, an seinen verlorenen Blick. Möglicherweise war der Verkäufer mit einem Schiff übers Meer gekommen und die Brillen, Taschen und der Schmuck sollten eine grosse Familie ernähren. Hatte sie ihn die ganze Zeit angestarrt? Beschämt schaute sie auf den Boden. Zum Glück sass eine der Sonnenbrillen auf ihrer Nase. Sie drückte dem Mann einen Geldschein in die Hand und wartete nicht auf das Rückgeld.

       14

      Der Fuchs schlüpft zwischen der Brombeerhecke und dem Gartenhaus hindurch. Jonas hält den Atem an. Der Fuchs fährt mit der Schnauze über den Boden. Was sucht er? Sein Fell ist struppig. Seine Beine sind kürzer als in Jonas’ Vorstellung. Der Schwanz ist buschig und endet in einer weissen Spitze. Auch am Hals und an der Innenseite der Läufe ist das Fell weiss. Jonas denkt: Der Fuchs hat sich verziert. Und er denkt an sein ergrautes Haar, das immer schütterer wird, ihn aber nicht verziert. Er sieht nur noch selten in den Spiegel. Beim Zähneputzen oder Händewaschen ist er ein Schatten.

      Jeden Montag, bevor seine Nichte Juna vorbeikommt, wagt er einen Blick und denkt: Verlottert! Bald sehe ich so heruntergekommen aus wie das Haus. Wenn im August die Bagger auffahren und eine Mauer nach der anderen krachend zu Boden geht, will ich nicht mehr hier sein.

      Jonas kämmt und rasiert sich. Tupft sich für Juna sogar ein paar Tropfen Rasierwasser auf Wangen und Hals. Jonas will vor ihr den Schein wahren. Er will nicht anders sein, als sie ihn kennt. Auch Juna legt grossen Wert darauf, dass Jonas gepflegt aussieht. Jonas ist sich nicht sicher, ob es ihr wirklich wichtig ist, oder ob sie nur versucht, ihn nach Pauls Vorstellung herzurichten: Jonas abzustauben und instandzuhalten. Er kommt sich vor wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. Jedenfalls hat Juna am letzten Montag des Monats immer ihre Coiffeurschere dabei. Auch heute führt sie ihn nach dem gemeinsamen Kaffee ins Badezimmer. Sie stellt sich wie immer ans Fenster und schaut in den Garten hinaus, während er sich bis auf die Unterhose auszieht und in die Badewanne setzt. Dann befeuchtet sie seine Haare mit dem Handsprüher. Jonas ist für einen Augenblick eingehüllt in eine feuchte, kühle Wolke.

      Juna kämmt ihm zuerst die Haare, obwohl Jonas nicht weiss, was es auf seinem Kopf noch zu kämmen gibt. Aber je länger Juna seine Kopfhaut mit dem Kamm streichelt, desto stärker ist das Gefühl, dass er noch jede Menge Haare habe.

      Dann greift Juna feierlich nach ihrer Schere, und Jonas fühlt sich wohl. Es stört ihn nicht, dass sie ihn zurechtstutzen will. Er denkt nicht an Paul und dessen Vorstellung von Ordnung. Juna widmet sich ihm ganz allein. Er versucht, sich in der Badewanne aufrechter hinzusetzen und den Kopf ruhig zu halten. Juna beginnt zu schneiden. Oder ist es Hanna? Jonas schliesst die Augen, er will glauben, dass sie es ist. Er sieht die langen, blonden Haare. Ihren konzentrierten Blick. Sie schneidet und kämmt abwechslungsweise. Immer wieder dreht sie sein Gesicht zu sich, indem sie ihn leicht am Kinn berührt. Er spürte Hannas Berührung. Sie weist ihn an, sie anzuschauen.

       15

      Die kleineren Schiffe schaukelten leicht im Hafen, zwei Fischer rollten ihre Netze zusammen. Alice stand an Deck, sie lehnte sich gegen die Reling, ihre Stoffhose flatterte im Wind. Tief atmete sie die warme, salzige Luft ein. Der Geruch von Diesel hatte sich darunter gemischt. Alice störte das nicht, denn die Gerüche waren Zeichen für sie. Zeichen, die ihr signalisierten, dass sie ihrem Ziel näher kam. Das Gelächter der anderen Passagiere nahm sie kaum wahr. Die Geräusche erinnerten sie an ein Lied. Die Fähre fuhr schneller, das Vibrieren unter ihren Füssen wurde stärker, ihr Körper wurde davon erfasst. Wie in Trance war sie auf ihrer Reise gewesen. Erst jetzt hatte sie das Gefühl, langsam zu erwachen, zu begreifen, dass sie es tatsächlich getan hatte.

       16

      Jonas öffnet die Augen. Juna tritt einen Schritt zurück. Die Art, wie sie ihm die Haare schneidet, erinnert ihn daran, wie er früher unter dem kritischen Blick seines Lehrmeisters Pläne von Möbeln gezeichnet hat. Nachdem er die Arbeit in der Metzgerei aufgegeben hatte, fand er rasch eine Lehrstelle in einer Schreinerei. Zwar träumte er davon, eines Tages Architekt zu werden, aber er mochte den Geruch des Holzes, die Arbeit mit den Händen, das Anfertigen von Skizzen und Plänen. Und das lange Schweigen seines Lehrmeisters.

      Jonas denkt: Juna schneidet mit einer Leichtigkeit, als würde sie mich skizzieren.

      Bevor Juna ihm den Handspiegel reicht, wischt sie ihm mit einem Handtuch über Gesicht und Nacken. Auf diese Weise geordnet und gepflegt, hat er das Gefühl, sein Bruder Paul schaue ihm aus dem Spiegel entgegen. Obwohl er ihn in den letzten Jahren kaum gesehen hat.

      Letzten Herbst schien Jonas auf dem Friedhof sein Spiegelbild entgegenzukommen. Sein Spiegelbild mit glänzenden Schuhen. Sein Spiegelbild mit dichterem Haar, gründlicher Rasur und gestutzten Augenbrauen. Paul liebte noch immer den grossen Auftritt. Vielleicht hatte er die Brauen sogar gekämmt und gegelt: Sie thronten regelrecht über seinen Augen. Sein Blick war nur wegen dieser Brauen stechend, da war sich Jonas sicher. Paul war schwammig und hatte einen wässrigen Blick. So, als ob er jederzeit in Tränen ausbrechen könnte. Das hatte ihm als Kind Mitgefühl und Milde von den Erwachsenen eingebracht.

      Jonas erinnert sich, dass Paul von Anfang an ein