Название | Jonas bleibt |
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Автор произведения | Arja Lobsiger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302298 |
Sie konnte nicht weinen, die Fenster erschienen ihr nackt.
Alice stieg über das schlafende Wesen und schloss die Balkontür. Dann breitete sie die Wolldecke, die noch von ihrer Mutter stammte, über das Bett. Mit beiden Händen strich sie die Falten glatt. Die Möbel und Dinge, die ihr Zimmer füllten, würde sie zurücklassen. Sie hatte fast Mitleid mit ihnen. Sie würden es wohl nie aus diesem Wartesaal hinaus schaffen. Ausser sie bekämen, wie durch einen Zauber, irgendwann kleine Räder angeschraubt. Sie würden aus ihrem Zimmer über den Teppich auf der Galerie an Jonas’ Schlafzimmer vorbeirollen, die Treppe hinunter, eine Rechtskurve durch die Eingangshalle fahren, angezogen von der Haustür. Ein Windstoss würde die Tür öffnen. Ihre Möbel, all ihre Dinge, die sie zurückgelassen hatte, würden über die Steinstufen durch den Vorgarten auf die Strasse rollen. Und sich durch die Stadt in verschiedene Richtungen davonmachen. Sie sah vor sich, wie die Bücher, die sie umgeben und begleitet hatten, mit Rädchen am Buchdeckel durch die Strassen flitzten.
8
Jonas bleibt auf der letzten Treppenstufe stehen. Sein Garten ist nicht mehr, was er einmal war. Im hochstehenden Gras wachsen Mohnblumen, Akeleien und Margeriten. Die Brombeer- und Himbeersträucher haben sich in der Mitte des ehemaligen Rasens getroffen, sind ineinander verwachsen und haben sich netzartig ausgebreitet. Die fünf Tannen ragen weit in den Himmel und verbergen unter ihren Ästen Waldboden. Neue Tannen sind gewachsen. Jonas könnte im Winter eine von ihnen als Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer stellen. Aber seit Alice’ Verschwinden feiert Jonas Weihnachten nicht mehr. An Weihnachten will er an gar nichts denken. Wenn im August die Bagger auffahren und eine Mauer nach der anderen krachend zu Boden geht, will Jonas nicht mehr hier sein.
Holunder-, Flieder- und Haselbüsche sind Bäume geworden. Ein Ast des Apfelbaums liegt abgebrochen am Boden, eine geöffnete Hand. Vom Weg, den er und Alice vor vielen Jahren mit Granitplatten quer durch den Garten gelegt haben, ist nichts mehr zu sehen. Nicht einmal das Ende seines Gartens kann Jonas erkennen. Die Vorstellung eines unendlichen Gartens gefällt ihm.
Irgendwo im Durcheinander, das die Natur in den letzten Jahren geschaffen hat, versteckt sich der Fuchs. Ob er schon lange im Garten lebt? Jonas setzt sich auf die Treppenstufe und wartet. Er bewegt den Kopf hin und her und versucht, den gesamten Garten zu überblicken. Der Fuchs zeigt sich nicht. Aber Jonas ist sich sicher, dass er ihn beobachtet.
9
Alice tastete nach ihrem Rucksack, sie wusste, was sie eingepackt hatte. Sie spürte, wie ihr Oberkörper von einem Zittern erfasst wurde.
Jonas lehnte sich gegen den Türrahmen. Er sah verloren aus, seit Hanna gestorben war. Aber Alice’ Mitleid mit ihm war aufgebraucht. Und wenn sich das Mitleid dennoch ihre Kehle hochwand, schaute sie auf seine Hände, und das Gefühl verschwand sofort. Seine Hände auf Hannas Haut. Seine Hände an den violetten Vorhängen.
Alice schaute auch jetzt auf seine Hände, um sich von ihm verabschieden zu können. Seine Wahrheit war, dass sie auf eine Wanderung ging und am Abend wieder zurückkehrte. Wenn Alice einen guten Tag hat, soll sie wandern gehen, hatte einer der Ärzte zu Jonas gesagt. Ihre Wahrheit war eine andere. Sie wollte dieses Haus und damit die Erinnerungen endlich hinter sich lassen. Alice strich Jonas über den Arm und sagte: Mach’s gut. So, wie sie es immer gesagt hatte. Doch heute meinte sie es so. Während sie ein letztes Mal in die Landschaft seines Gesichtes blickte, hätte sie ihn am liebsten gleichzeitig angespuckt und umarmt. Gleichzeitig angeschrien und ihm gesagt, dass sie nicht mehr zurückkommen werde. Aber sie schwieg und biss sich auf die Lippen. Dann schob sie ihn zur Seite und schloss die Zimmertür. Der dunkelgrüne Teppich, der über die gesamte Galerie und die Treppen in die Eingangshalle hinunterführte, war Moos unter ihren Füssen. Unten angekommen, stieg sie in die alten Wanderschuhe aus Leder, eine lange Reise lag vor ihr. Während sie die Schnürsenkel festzog und band, spürte sie in den Füssen die Leichtigkeit ihrer neuen Ballerinas, die sie im Rucksack verstaut hatte.
Jonas räusperte sich. Er hing beinahe über dem Geländer der Galerie. Alice zuckte zusammen. Hatte er ihren Fluchtplan doch durchschaut? Aber er hob nur die Hand. Mit der gleichen Bewegung versuchte er sie bei Streitigkeiten zu beschwichtigen. Die schwere Holztür fiel hinter ihr ins Schloss. Sicherlich hallte das Geräusch noch lange in der Eingangshalle nach. Vielleicht stützte sich Jonas noch immer auf dem Geländer der Galerie ab. Aber Alice hatte den Schritt über die Schwelle getan und ging Richtung Bahnhof. Sie hatte das Gefühl zu traben, den Wind im Rücken.
10
Jonas steht am Wohnzimmerfenster. Es regnet nicht mehr. Die drei Kirschbäume im Garten zeigen zwischen ihrem weissen Blütenkleid etwas Grün. Jonas schaut auf die Uhr. Es ist Viertel nach sieben. Gestern ist um diese Zeit ein rostroter Fleck neben dem Gartenhaus aufgetaucht. Jonas öffnet die Tür zum Garten, bleibt aber auf der Schwelle stehen. Ein Bild will er sein, gerahmt von der Tür. Er schliesst die Augen, blinzelt. Büsche, Bäume, das Gestrüpp, die Blumen, alles bewegt sich. Jonas versucht, regungslos zu stehen und flach zu atmen. Nur seine Lider flackern in der Hoffnung, den Fuchs hervorzuzaubern. Jonas öffnet die Augen, und in seinem Garten ist alles an seinem Platz. So wie er es hat stehen lassen, als seine Tochter Etna ein paar Monate nach dem Verschwinden von Alice ausgezogen ist.
Etna spricht nicht mehr mit ihm, seit Alice vor einem Jahr von einer Wanderung nicht zurückgekehrt ist. Damals fragte sie: Hast du die Polizei informiert?
Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um deine Mutter zu finden, antwortete er.
Etna schüttelte nur den Kopf und schaute ihn mit leeren Augen an. Dieser Blick ist an ihm haften geblieben, und auch Etna scheint ihn nicht mehr loszuwerden.
Weder der Himmel noch die Hölle, die er in Bewegung gesetzt hatte, brachten ihm Alice zurück. Auch als die Polizei die Suche nach ihr aufgab, schreckte er noch wochenlang hoch, wenn das Telefon klingelte. Er hatte die Suche nach Alice nicht aufgegeben. Bis im November der Schnee die Gebirgswege unter sich versteckte, schaute er hinter jeden Felsbrocken, in jeden Abgrund und jede Höhle. Nach stundenlangem Suchen musste er sich manchmal daran erinnern, wonach er suchte. Aber er fand nichts. Kein Zeichen, keine Nachricht, kein Kleidungsstück von ihr, nicht Alice. Sorgfältig markierte er auf einer Karte, welche Gebiete er durchkämmt hatte. Zu Beginn begleitete ihn seine Nichte Juna. Im September gab sie auf, sagte: Wenn du so weitermachst, werde ich noch krank vor Sorge um dich.
Als Juna im November demonstrativ seine Haustür verschloss und den Schlüssel versteckte, weil sie in den Nachrichten vom Wintereinbruch in den Bergen gehört hatte, gab er auf. In den langen Nächten wünschte er sich nur noch eines: Dass Alice gefunden werde, tot oder lebendig. Die unerträgliche Ungewissheit musste ein Ende haben.
Irgendwann hörte er auf, den Briefkasten zu leeren und die Rechnungen zu bezahlen. Das Telefon in der Eingangshalle ist seither nur noch ein Requisit.
Die Pflanzen in Jonas’ Garten sind in alle Himmelsrichtungen gewachsen. Etnas Hände, verpackt in Gartenhandschuhe, suchen schon lange nicht mehr nach Unkraut und kranken Pflanzen. So kann in seinem Garten wachsen, was wachsen will. Nur selten betritt er den Garten. Lieber beobachtet er durch die Fenster, wie er grünt, wächst und wuchert. Eigentlich ist mein neuer Garten kein Durcheinander, denkt Jonas.
Er beschliesst, seinen Garten Dschungel zu nennen.
11
Alice sass im Zug. Sie konnte sich nicht freuen, aber auch nicht weinen. Es kam ihr nicht wie ein Abschied vor, denn bei einem Abschied erhofft man sich ein Wiedersehen, sie aber wollte nur in eine Richtung fahren. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen. Alice drückte die Stirn gegen das Fenster und blickte zurück auf den Bahnsteig, als der Zug mit einem Ruck losfuhr. War ihr Jonas gefolgt? Ihr Herz klopfte, und sie spürte, dass ihr T-Shirt unter der Jacke durchnässt war. Auf dem Bahnsteig sass nur ein Hund, der