Название | Jonas bleibt |
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Автор произведения | Arja Lobsiger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302298 |
Jonas blinzelt, das Gartenhaus hüpft weiter auf und ab. Wie viele Regengüsse hat dieses kleine Haus schon über sich ergehen lassen?, fragt er sich. Wie vielen Stürmen würde es noch standhalten? Seit Alice verschwunden ist, hat Jonas die Tür des Gartenhauses nicht mehr geöffnet. Wie es wohl drinnen aussieht?
Alice hatte sich schon lange ein Gartenhaus gewünscht. Jonas hatte es ihr aus Dankbarkeit gebaut. Sie zog mit ihm und Etna in das Haus ihrer früh verstorbenen Eltern ein. Zuvor hatte es zwei Jahre leer gestanden. Die Möbel und alle Gegenstände standen noch darin, als kämen ihre Eltern bald zurück. Einen Teil des Geldes, das Alice geerbt hatte, wollte sie in die Renovation des Hauses investieren.
Knapp zwei Jahre nachdem Jonas die Metzgerei von seinem Vater übernommen hatte, hielt er es dort nicht mehr aus. Der Vater kam jeden Tag ins Geschäft hinunter und fand immer etwas, das Jonas nicht richtig machte. So hatte er stets einen Grund, weiterhin in der Metzgerei zu arbeiten. Angeblich um Jonas zu helfen. Am Anfang schwieg Jonas in der Hoffnung, sein Vater würde ihn bald in Ruhe lassen. Als er sich dann doch zu wehren begann, endete jeder Arbeitstag mit mindestens einem ungelösten Streit.
Eines Tages verkündete er Alice: Ich werde keinen Tag länger in der Metzgerei arbeiten. Ich will nur noch weg.
Jonas sieht vor sich, wie sie damals heimlich in der kleinen, alten Wohnung über der Metzgerei das Nötigste in die Koffer und Kisten packten. Wie sie mitten in der Nacht, als aus der Wohnung seiner Eltern keine Geräusche mehr nach unten drangen, durch den strömenden Regen zu Alice’ Haus fuhren. Wie Alice den Schlüssel drehte, die schwere Holztür öffnete und er in die Eingangshalle trat. Hier hatte er sich sofort zu Hause gefühlt.
Er war nicht nur froh, den Launen des Vaters entkommen zu sein. Sondern auch diesem seltsamen Spiel von Nähe und Distanz, das seine Schwägerin Hanna mit ihm in der Metzgerei getrieben hatte. Alice erzählte er aber davon nichts.
Nachdem Jonas und Alice Metzgerei und Wohnung über Nacht verlassen hatten, sprachen seine Eltern und auch sein Bruder Paul kein Wort mehr mit ihm. Schweigen als Strafe, das kannte Jonas bereits von seinem Vater. Es war, als hätten sie als Familie beschlossen, dass dies seine gerechte Strafe sei. Er hatte keine andere Reaktion erwartet. Aber er wünschte sich, sein Vater würde ihn anschreien oder ihn ins Gesicht schlagen. Darauf hätte er etwas erwidern können. Wie sollte er anders auf kollektives Schweigen reagieren, als ebenfalls zu schweigen? Jonas konnte aber nicht verstehen, warum Paul wütend war. Er war nun Retter und Held. Hatte er doch nach Jonas Verschwinden sein Lehrerstudium für den Familienbetrieb geopfert und die Metzgerei übernommen.
Der richtige Moment, um das Gartenhaus zu bauen, war dann zwei Jahre später gekommen, als sie eine der sechs Tannen fällen lassen mussten. Sie war zu gross geworden und schwankte gefährlich im Wind. Jonas rief Paul an, sprach mit ihm als wäre nichts geschehen. Paul schien ihm in der Zwischenzeit verziehen zu haben und erklärte sich sofort bereit, zu helfen. Einen ganzen Tag lang beugte sich Paul über das Tannenholz und führte die Säge nach Jonas Anweisungen hin und her. Rastlos und mit viel Kraft. Jonas beobachtete seinen Bruder von der Terrasse aus. Den nackten Oberkörper und die sehnigen Arme. Einen Tag lang war Paul ein anderer Paul. Das Sägemehl staubte ins Gras.
Da flackert ein rostroter Fleck neben dem Gartenhaus. Jonas öffnet die Augen. Er sieht, wie der Fuchs hinter der Brombeerhecke verschwindet.
5
Alice blickte vom Balkon aus in ihr dunkles Zimmer. Viele verschwommene Jahre hatte sie hier verbracht. Nur in der Mitte, wo sich die violetten Vorhänge trafen, blieb ein Spalt, durch den die Sonne ins Zimmer drang. Ein heller Streifen lag auf dem Parkett, in den Sonnenstrahlen tanzte der Staub. Im Zimmer gab es an gewissen Stellen Licht und Schatten. Gegenstände erhielten Konturen.
So kurz vor dem Abschied war es, als würde Alice ihr Zimmer mit den Augen eines Besuchers sehen. Die bauschige Bettdecke, die Kissen in allen Grössen, ihre Bücher. Den leeren Schreibtisch, als hätte sie keine Ideen. Die Teekanne, die gestapelten Tassen. Der Wasserkocher, die Holzschachtel mit den Teebeuteln. Das Foto von dem Kind, das es an seinem letzen Geburtstag zeigt, die Kerze davor. Jonas wechselte sie aus, sobald sie halb abgebrannt war. Hinter den violetten Vorhängen war der Balkon versteckt gewesen, auf dem Alice nun stand. Trotz allem, was geschehen war, wollte sie gewisse Dinge in Erinnerung behalten. Den Blick hinunter in den Garten, die Tannen, die Sträucher, die Blumen, ihr Gartenhaus, den Weg aus Granitplatten.
Nichts war seit jenem schrecklichen Tag in ihrer Familie mehr, wie es zuvor gewesen war. Den Garten jedoch hatten Etna und Jonas seit dem Tod des Kindes gemeinsam gepflegt und angelegt, als hätten sie es mit Alice’ Händen getan. Alice hatte es als Zeichen ihrer Liebe verstanden. Der Blick in den Garten hatte ihr in all den Jahren ein Gefühl von Heimat gegeben, von Orientierung. Doch zuletzt konnte sie den Anblick kaum mehr ertragen. Der Garten hatte sich nicht verändern können. Selbst die Bäume waren kaum grösser geworden, weil sie Jonas im Dezember immer wieder akkurat in dieselbe Form schnitt.
Der Gedanke war Alice vor ein paar Tagen gekommen: Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Ort, an dem selbst die Pflanzen dem Diktat eines Menschen folgen. Wozu der grosse Aufwand, den Jonas betreibt, damit sich nichts verändert?, fragte sie sich. An diesem Ort konnte sie nicht bleiben.
6
Jonas öffnet die Tür, die über eine mit Moos bewachsene Steintreppe in den Garten führt. Auf den Stufen kleben Schnecken, die sich zusammenrollen, wenn er aus Versehen auf sie tritt. Von den Weinbergschnecken sind nur noch die Häuschen übrig geblieben, die Jonas als Botschaften von Verreisten liest.
Früher sammelte er die Häuschen an den schattigen Plätzen unter der Hecke und legte sie an die Mittagssonne. Später präsentierte er seinem Bruder Paul stolz seine Sammlung, die er in einer alten Schuhschachtel aufbewahrte. Mehrere Tage hatte er in den Herbstferien gebraucht, um sie zu bemalen. Verschiedene Blautöne wechselten sich mit Weiss ab. Die Schachtel versteckte er unter seinem Bett. Im Deckel führte er eine Liste, in die er die neue Anzahl Schneckenhäuser samt Datum eintrug, weil er befürchtete, dass Paul ihn beklaute, während er in der Schule war.
Paul konnte schon im Kindergarten lesen und begann kurze Zeit später in ein Notizheft zu schreiben. Am liebsten las er Jonas daraus vor. Neben Lesen und Schreiben lernte Paul auch Rechnen ohne Anstrengung. Trotzdem beklagte er sich beim Abendessen über die Hausaufgaben. Gestikulierte mit aufgerissenen Augen und gab seiner Stimme einen dramatischen Unterton, wenn er Jonas und den Eltern sein Leid klagte. Nur Jonas schien zu erkennen, was für ein Spiel sein Bruder spielte. Keiner bemerkte, dass die Küche Pauls ideale Bühne war. Weshalb wunderten sich die Eltern nicht, dass Paul seine Hausaufgaben nebenbei am Frühstückstisch löste? Für sie war klar, dass Paul später einmal studieren und nicht in der Metzgerei stehen würde.
Einmal las Jonas heimlich in Pauls Notizheft. Jonas beneidete Paul um seine Leichtigkeit, neue Dinge zu lernen. Als er in dem Heft las, wurde sein Neid noch grösser. Jonas war sich sicher, dass Paul diese Notizen nur für ihn machte. Paul wollte, dass Jonas dasselbe Wissen hatte wie er. Aber Jonas fühlte sich nur noch dümmer, noch langsamer.
Seit Paul auf der Welt war, bewunderten ihn alle. Sein Vater erwähnte regelmässig, wie gross Pauls Gehirn im Vergleich zu dem anderer Jungen seines Alters sei. Auch die Kundinnen der Metzgerei verfielen in ein Säuseln, sobald sie Paul erblickten. Es spielte keine Rolle, ob er neben dem Tresen im Kinderwagen lag und schlief oder ihnen entgegenlief. Die eine kniff ihn in die Wange, die andere fuhr ihm durchs Haar, und die dritte küsste ihn auf die Stirn. Auch als Paul schon das Lehrerseminar besuchte, nannten die Kundinnen ihn Päulchen, sobald sie in die Metzgerei stöckelten. Betrachteten ihn mit besorgtem Blick und voller Stolz. Jonas fragten sie nur höflichkeitshalber, wie es ihm gehe.
Jonas weiss, dass Paul ihm seine Liebe zu Hanna wohl nie wird verzeihen können. Auch Alice’ Verschwinden vor einem Jahr hat daran nichts geändert. Paul meldet sich nicht mehr bei ihm, kommt nicht vorbei. Auch Mitleid hat er keines. Zwischen ihnen steht wieder Schweigen.