Название | Jonas bleibt |
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Автор произведения | Arja Lobsiger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858302298 |
Arja Lobsiger
Jonas bleibt
Arja Lobsiger
Jonas bleibt
Roman
orte Verlag
© 2017 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
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Umschlaggestaltung: Janine Durot
Gesetzt in Arno Pro Regular
Satz: Verlagshaus Schwellbrunn
eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de
ISBN Buch 978-3-85830-224-3
ISBN eBook 978-3-85830-229-8
1
Eine weitere Minute verging. Gegen das Balkongeländer gelehnt, als wäre es eine Schiffsreling, spürte Alice Unruhe. Dachte: Das letzte Mal auf dem Balkon stehen, das letzte Mal in den Garten hinunter schauen. Sie hob den Blick. Sah in die Ferne über die blühenden Kronen der Kirschbäume hinweg. Erste Sonnenstrahlen verfingen sich in den Ästen. Sie stellte sich vor, bereits auf der Fähre zu sein.
Die farbige Häuserfront wird immer kleiner, die Segelmasten im Hafen sind kaum mehr erkennbar, das röhrende Geräusch des Schiffmotors, das angenehme Vibrieren. Ihre Haare bewegen sich im Fahrtwind, die Wanderhose flattert um ihre Beine, das Rauschen der Wellen schläfert sie ein. Dabei ist sie hellwach.
Alice trug bereits den Rucksack und spürte seine Wärme am Rücken. Sie atmete die Meeresluft ein. Schon jetzt kündigten sich die Gefühle an. Endlich in Bewegung sein.
Unten im Garten hing noch die Wäsche an der Leine. Die Bettbezüge und das weisse Laken wölbten sich in der kühlen Brise. Jonas wird sie am Abend zusammenfalten. Alice schloss die Augen, sah sich als Fleischstück in der Auslage von Pauls Metzgerei liegen. Und ausgerechnet Hanna stand hinter der Theke, wedelte mit einer rosa Plastikfolie durch die Luft. Unerträglich laut war das flatternde Foliengeräusch. Wut stieg in ihr auf, am liebsten hätte sie mit ihrer Faust eine Scheibe zerschlagen.
Für Alice gab es kein Zurück mehr. Viel zu lange hatte sie gewartet in der Hoffung, etwas würde geschehen. Einen Wartsaal hatte sie sich in ihrem Zimmer eingerichtet. Nichts durfte sich verändern in ihrer Welt. Und trotzdem war da immer eine leichte Ungeduld. Als wäre sie auf der Durchreise und fände keinen Ort, an dem sie ankommen könnte. Was ist es, worauf ich warte?, begann sie sich irgendwann zu fragen. Die Uhrzeiger drehten sich weiter, auch in diesem Haus. Doch die Möbel blieben stehen, wo sie schon immer gestanden hatten. Regelmässig wurden sie von Jonas abgestaubt, damit der Lack weiter glänzte. Nichts sollte darauf hinweisen, dass doch so vieles passierte. Und für all die Dinge, die geschahen, bildete das alte Haus die Kulisse. Ausser Takt waren sie geraten, keiner sollte es bemerken. Heimlich sehnten sie sich danach, zu viert zu sein. Das Kind fehlte ihr. Das Kind fehlte Jonas. Das Kind fehlte Etna. Eigentlich hätte sie dieses Loch, das so plötzlich entstanden war, einander näher bringen sollen. Alice konnte noch immer nicht verstehen, warum aus dem Loch ein Strudel geworden war, der sie, Jonas und Etna in unterschiedlicher Weise hinabgezogen hatte.
2
Es klingelt. Jonas erwacht und streckt die Hand nach dem Wecker aus. Es klingelt weiter. Jonas tastet im Dunkeln nach dem Telefon. Aber das ist schon lange ausser Betrieb. Es klingelt noch einmal. An der Tür. Eigentlich klingelt schon lange keiner mehr bei ihm.
Bis später. Das sagte seine Frau Alice damals, als sie sich vor einem Jahr von ihm verabschiedet hatte. Jonas hatte sich nichts dabei gedacht und nur genickt.
Noch immer fragt er sich, wie er so blind hat sein können, obwohl er ein Sehender ist. In der Dunkelheit glaubt er, Alice atmen zu hören. Jonas knipst die Lampe neben dem Bett an und blickt auf die Uhr. Sie zeigt drei und nicht sieben. Vielleicht geht sie vor oder zurück. Jonas schlüpft in seinen Morgenmantel. Ihm ist leicht schwindlig, als er barfuss über die Galerie zur Treppe geht. Im Erdgeschoss angekommen öffnet er die Wohnungstür. Aber da ist niemand.
Ende April. Vom Fensterbrett wirbelt Staub auf. Das Ende eines weiteren Morgens zeichnet sich am Sonnenstand ab. Jonas schaut sich gedanklich um. Was ihm noch bleibt, sind zwei Zimmer in einem alten Haus. Im Winter zieht der Wind durch die Ritzen in den Fensterrahmen. Im Sommer ist es staubig und heiss.
Wenn im August die Bagger auffahren und eine Mauer nach der anderen krachend zu Boden geht, will Jonas nicht mehr hier sein. Dieser Satz könnte auch der Refrain eines Liedes sein.
3
Alice klammerte sich an das Geländer des Balkons. Die weisse Farbe blätterte ab. Der grüne Anstrich, den ihr Vater vor Jahren gemacht hatte, blitzte an einigen Stellen hervor. In den vergangenen Jahren waren die sechs Quadratmeter des Balkons Alice’ Welt ausserhalb des Zimmers gewesen. Eine Welt, die sie nur selten betreten hatte, um in den Garten zu schauen. Wenn sie den Schritt auf den kalten Betonboden gewagt hatte, verspürte sie den Drang, auf den Zehenspitzen auf- und abzuwippen. Und die Luft, in die sie eintauchte, war ihr entweder zu kalt oder zu heiss und sie konnte kaum atmen. War es zu spät, um ins Zimmer zurückzukehren, begann sie in Panik zu schreien. Ihre Hände und Beine verkrampften sich, und sie bog sich unkontrolliert nach hinten. Nur wenn es regnete, stand sie ganz still. Oft hatte sie die Augen geschlossen, und hörte dem Rauschen zu. Alice konnte sich wegdenken. Einweben in den Regen, nannte sie dies. Denn das Rauschen, so stellte sie sich vor, klang überall auf der Welt gleich.
Die schweren violetten Vorhänge in Alice’ Zimmer waren meist zugezogen gewesen. Jonas hatte stets wiederholt, sie könne das Licht nicht ertragen, ungesund sei es für sie. Bis sie es irgendwann selber glaubte, wie so vieles, was er ihr über sie erzählt hatte. Aufgesogen hatte sie seine Sätze, seine Ratschläge, seine Geschichten. Es war, als würde sie in einem Körper wohnen, der nicht ihr gehörte.
Den Spiegel in ihrem Zimmer hatte sie irgendwann abgehängt, umgedreht und an die Wand gelehnt. Denn noch fremder kam sie sich vor, wenn sie sich anschauen musste.
Erst vor ein paar Wochen hatte sie gewagt, sich wieder im Spiegel zu betrachten. Sie hatte einen guten Tag gehabt, wie Jonas jeweils zu ihr sagte. Was er damit meinte, war, dass er hoffte, selbst einen guten Tag zu haben. Alice war in der Stadt spazieren gegangen. In einem Schaufenster hatte sie ihr Spiegelbild gesehen.
4
Jonas steht am Wohnzimmerfenster. Draussen regnet es. Die drei Kirschbäume im Garten zeigen ihr weisses Blütenkleid. Jonas schliesst die Augen, blinzelt zwischen den Wimpern hervor. Es könnte auch Schnee sein, der auf den Bäumen liegt. Jonas blinzelt sich ein Stück weiter zum Gartenhaus. Es flackert. Nein, es hüpft auf und ab. Sein Gartenhaus hüpft, als stehe es auf einem Trampolin. Jonas wundert sich, dass das schiefe Gartenhaus so lebendig ist. Nach dem ersten Hüpfer müsste es eigentlich in sich zusammenfallen. Bei ihm wäre das so. Die Knochen würde er sich brechen, sein Inneres wäre durcheinander. Dick- und Dünndarm würden sich unlösbar ineinander verschlingen. Leber, Milz und Gallenblase wären im Knäuel der Därme kaum mehr zu finden.
Könnte dieses Durcheinander wieder zu seiner alten Ordnung finden, wenn ich lang genug hüpfte?, fragt sich Jonas. Aber ein Organ bleibt ein Organ. Eine Worthülse für einen Raum, der auch nur eine Hülse ist.
Gerne hätte sich Jonas die Hand in den Mund gesteckt und durch die Kehle nach seinen Organen gegriffen und sie herausgezerrt. Eines nach dem anderen. Um sie vor sich auf dem Fenstersims aufzureihen. Übersichtlich, geordnet.
Danach hätte er sich erneut die Hand in den Mund gesteckt und durch die Kehle in den Innenraum gegriffen. Vielleicht hätte er ein Haarbüschel von Alice erwischt und sie aus sich herausgezogen. Vor ihm würde sie stehen, wie er sie vor einem Jahr das letzte Mal auf dem Balkon ihres Zimmers hatte stehen sehen. Das blaue