Название | Nordwestbrise |
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Автор произведения | Monika Dettwiler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858826343 |
Monika Dettwiler
NORDWESTBRISE
Monika Dettwiler
NORDWESTBRISE
Roman
Appenzeller Verlag
I. Auflage, 20I2
© Appenzeller Verlag, CH-9I0I Herisau
Alle Rechte der Verbreitung,
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Umschlagbild: iStockphoto / Stiftsarchiv St. Gallen
ISBN Buch: 978-3-85882-593-3
ISBN eBook: 978-3-85882-634-3
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Für Lavinia und Emma
1
Die Schiffe sahen grösser aus als Fischerboote. Hart stiessen sie gegen den Steg von Arbon. Waren lagerten keine auf den Planken, da standen Männer, einer neben dem anderen. Sie trugen rote Wadenbinden, wie kein Alemanne sie hatte. Wuchtig stürzten sie von den Schiffen an Land. Metall blitzte auf, der Steg zitterte. Jetzt schwärmten die bewaffneten Männer über den Platz aus. Einer stürmte mit dem Schwert in der Hand auf Utinas Haus zu. Sie hatte Angst, war wie gelähmt und starrte durch den Mauerspalt nach unten.
Hier, vom Kastell aus, hatte Utina etwas früher am Nachmittag in die andere Richtung geschaut. Über die Ställe hinweg zu den Wäldern. Die Sonnenstrahlen waren über feuchte Frühlingsblätter getanzt. Auf dem vom Regen aufgeweichten Pfad hatte Utina ihren Vater entdeckt. Otpert trug wieder das Tuch mit den zwei Löchern und den Holzreif bei sich. Er ging rasch, bald würde er im Wald verschwunden sein. Utina stieg über die Vorsprünge der Mauer nach unten und eilte ins Haus. In der Wohnhalle stand Utalind. Die ältere Schwester trug ihre helle Tunika und strich mit den Fingern über das feine Leder ihres neuen Täschchens, das am Gehänge an ihrem Gürtel befestigt war.
«Heute folge ich Vater, ich will wissen, wohin er geht», sagte Utina. «Kommst du mit?» Die Zwölfjährige reckte energisch das Kinn empor und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Obwohl ihr rotbraunes Haar im Nacken in einen Zopf floss wie bei Utalind, war es weniger sorgfältig gescheitelt.
«Kommst du nun mit?», wiederholte Utina, weil die Schwester schwieg.
Nein, wollte Utalind sagen, und du gehst auch nicht! Aber sie sah Schalk und Lebensfreude in Utinas grünen Augen aufblitzen. «Lass dich von Gutan begleiten», sagte Utalind, lachte gutmütig, als die Schwester sie umarmte, und sah dann wieder zu den weissen Tüchern, die in einer offenen Truhe für sie bereitlagen.
Utina nahm ein kleines Messer vom Herd, eilte vor das Haus und sagte zum Diener, ihr Vater habe etwas vergessen, sie müssten ihm folgen. Sie liefen schnell, und in Utinas Nacken tanzte der Zopf zum Takt des Liedes in ihr. Kurz vor der grossen Waldlichtung erblickten sie den Vater. Utina hielt Gutan zurück. Sie beobachteten, wie Otpert vor seltsamen Holzkästen halt machte, sich das Tuch über den von weissen Strähnen durchzogenen Rotschopf stülpte und mit dem Reif befestigte. Um die Hände wand er sich Lederstreifen. Während er eine Bienenwabe nach der anderen behutsam herausnahm und den Honig in einen Topf fliessen liess, sang Otpert leise vor sich hin. Utina schien es, als summe er mit den Bienen, die ihn immer hektischer umschwirrten.
«Soll ich dir mein Versteck zeigen?», flüsterte Utina. «Von dort aus sehe ich alles, und niemand sieht mich.» Gutan nickte. Sie war die Tochter des Herrn und er ein Kirchenknecht, aber da Waldram, Utinas Grossonkel, Eigentümer der Kirche war, gehörte er der ganzen Sippe und damit ein bisschen auch ihr. Gutan war etwas älter als Utalind.
Jetzt, in der Abenddämmerung, hörte Utina Gutans Atem hinter sich, sie umklammerte seine Hand. Durch die Mauerritze sahen sie, wie bewaffnete Männer durch die Gassen schwärmten. Einer trat gegenüber Utinas Haus die Tür ein, zwei weitere stürmten ins Innere und wieder hinaus. Ihre Umhänge waren mit Blut bespritzt, ihre Gesichter zu Grimassen verzerrt. Sie stiessen grauenvolle Schreie aus. Utina wollte schluchzen, aber kein Ton kam heraus, als die Krieger ins Haus ihres Grossonkels Waldram stürzten, das schönste Haus Arbons. Knechte warfen sich mit blossen Händen den Fremden entgegen, zwischen ihnen Waldram mit dem Schwert. Die Hörigen wurden beiseitegestossen und mussten zusehen, wie die Angreifer ihren Herrn niedermetzelten.
Gott, hilf uns, schrie Utina, aber es war nur ein Gedanke, ihre Lippen bewegten sich nicht. Sie sah, wie ein Bewaffneter grinsend sein bluttriefendes Schwert am Körper des toten Waldram abstreifte. Als drei Männer in ihr eigenes Haus einbrachen, grub Utina ihre Fingernägel in Gutans Fleisch. «Utalind», brüllte er, riss sich los und drängte an ihr vorbei. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Im letzten Moment schob Utina ihm das Messer in die Hand. Dann sah sie, wie zwei Krieger die Schwester aus dem Haus schleppten, ein Dritter trug ihre Tücher. Plötzlich war Gutan da und ging mit seinem Messer auf die Feinde los, bis er unter dem Schlag eines Schwertknaufs zu Boden sank. Utalinds Schreie verebbten zwischen den Häusern, dann sah Utina, wie die Schwester über den Steg in ein Schiff gezerrt und festgebunden wurde. Utina sank in sich zusammen und umklammerte zitternd ihre Knie. Im Dunkeln auf dem Mauerboden verschmolz das Klirren der Schwerter mit den Schreien zu einem Summen, das aus weiter Ferne zu kommen schien.
Das strohbedeckte Pfostenhaus befand sich in einer Waldlichtung östlich von Arbon. Dahinter lagerten Holz und Schindeln neben mehreren Ochsenkarren. Dicht drängten sich Rinder und Schweine in einem Pferch. Hühner flatterten zwischen den vielen Menschen umher, die im Haus am Boden sassen oder an die Wände lehnten und kaum etwas sahen, weil das Licht nur durch eine einzige schmale Öffnung im Giebeldach drang.
Er fühle sich matt und alt, aber er gebe nicht nach wie Waldrams Sohn, er gehe nicht nach Romanshorn, sagte Otpert zu seinen beiden Söhnen, die den blutigen Abend überlebt hatten. Utina wollte nicht zuhören, sie wollte um Utalind trauern, aber die Worte des Vaters waren laut. Alle in der Halle mussten erfahren, weshalb die Wehrmänner vom Nordwesten her über den See gekommen waren: Die Franken wollten den ganzen Kastellbezirk räumen. Im Namen des königlichen Hofs. Waldram hatten sie schon im Herbst angewiesen, seinen Besitz in Arbon aufzugeben und mit der Sippe auf seine Ländereien in Romanshorn zu ziehen. Aber Waldram hatte den Rat in den Wind geschlagen, er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass die Franken mit so vielen Schiffen und Wehrmännern kommen und angreifen würden.
«Zum Glück hat Waldram es mir erzählt, da habe ich als Fluchtort dieses Haus gebaut. Nun sind wir frei», fuhr Otpert fort. Utina bemerkte den seltsamen Singsang, in den er verfiel, wenn er lange sprach und alle ihm zuhörten.
«Frei wofür?», hörte Utina ihren älteren Bruder fragen. Wolfgang trug sein blondes Haar schulterlang wie alle freien Alemannen, er war stolz auf seinen vollen rötlichen Bart.
«Für unsere Rache», sagte Otpert, und sein jüngerer Sohn Waldo stimmte zu. Der Kleinwüchsige versuchte, seiner hellen Stimme einen kräftigen Klang zu geben. «Wir segeln über den See in die Fremde und holen Utalind zurück.»
Otpert erklärte, die Franken hätten es nicht auf ganz Arbon abgesehen gehabt, nur auf Waldrams Familie. Aber dessen Sohn Waldbert habe durch Zufall überlebt. Der Mann, der bei den Franken alles lenke, heisse Karl. «Merkt euch seinen Namen, Wolfgang und Waldo! Karl, man nennt ihn auch den Hammer. Wer für ihn ist, ist euer Feind. Nicht ein König hat den Überfall befohlen, es gibt ja gar keinen mehr, sondern dieser Hausmeier, der sich über alle stellen will. Er hasst unser Alemannien.»
«Was ist ein Hausmeier?», fragte Waldo.
«Hausmeier sind Leute, die in einem Teil des Merowingerreichs an der Spitze der königlichen Hofverwaltung