Название | Wörterbuch der Soziologie |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846385661 |
Teleologie und Mathematik
Der teleologische Funktionsbegriff leitet sich von der ›causa finalis‹, der Zweckursache, im aristotelischen Kausalitätsschema ab. Er verweist damit auf ein Ganzes, bei den alten Griechen den Kosmos, die Polis und die Psyche, aus dem heraus der Platz (telos) und damit die Leistung eines Teils zu erklären sind. Eine teleologische Funktion kann entweder perfekt erfüllt oder korrupt verfehlt werden. Sie[138] kann überdies von einer ›Regierung‹ in den Funktionszusammenhang wieder eingeführt werden, um ihre Leistung zu bestätigen oder ihr Versagen zu korrigieren. Umgekehrt kann von der ›Kritik‹ angemahnt werden, dass das Ganze seine Aufgabe nicht erfüllt, bestimmte Teile in ihrer Leistungserbringung zu unterstützen.
Der mathematische Funktionsbegriff beschreibt seit René Descartes, Gottfried Leibniz und Leonhard Euler eine Abhängigkeit zwischen Variablen
y = f(x)
derart, dass mithilfe der Funktion »f« die Variable »y« bestimmt werden kann, wenn »x« bekannt ist. Man spricht auch von einem Input »x« in eine Funktion »f(x)«, um den Output »y« errechnen zu können. Solche Funktionen sind die Grundlage eines Kalküls.
Im Gegensatz zum teleologischen Funktionsbegriff der Antike, der ontologisch konzipiert ist, das heißt Feststellungen über das Wesen des Seienden trifft (nämlich: Teil eines Ganzen zu sein), ist der mathematische Funktionsbegriff modern, indem er nach der Variation von Variablen in einem Zusammenhang von Abhängigkeiten fragt, die vorab keinen Einschränkungen unterworfen sind, sondern es ermöglichen, nach faktischen Einschränkungen zu suchen und sie unter Umständen aufzulösen. Beide Funktionsbegriffe sind heuristisch fruchtbar, doch der antike Begriff ist auf eine endliche Menge natürlicher Einheiten beschränkt, während der moderne Begriff sich auf eine unendliche Menge auch technisch erweiterbarer Möglichkeiten bezieht.
Soziologie
Für die theoretische und empirische Arbeit der Soziologie faszinierend ist dabei weniger die Frage nach »x« und »y« als vielmehr die Frage nach »f«. Wer oder was stellt die funktionale Verknüpfung »f« zwischen »x« und »y« her? Worin besteht sie? Wie häufig muss sie vorkommen, um als Verknüpfung aufzufallen? Wie zuverlässig ist sie? Muss man von ihr wissen, damit sie wirkt, oder ist es hilfreich, wenn man nichts von ihr weiß? Und wer muss etwas wissen und wer sollte nichts wissen? Man kann hier Natur und Technik, Akteur und System, Intention und Fatalität, Kultur und Zufall als Formen des Ausbuchstabierens von f unterscheiden, ohne diese Fragen je abschließend beantworten zu können.
Vor allem Robert K. Merton und Niklas Luhmann dekonstruieren den Funktionsbegriff im Hinblick auf seine teleologischen Komponenten und plädieren für eine Reduktion auf den mathematischen Funktionsbegriff.
Merton kritisiert die bisherigen drei Postulate des Funktionalismus, die darauf hinauslaufen, eine funktionale Einheit der Gesellschaft, eine positive Funktionalität aller sozialen Phänomene und die funktionale Unersetzbarkeit jedes einzelnen Phänomens anzunehmen, und plädiert stattdessen für einen strengen Äquivalenzfunktionalismus, der für jedes soziale Phänomen von einem Variationsspielraum zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Leistungen ausgeht. Merton schlägt vor, zwischen manifesten Funktionen, die Akteuren bekannt sind und von ihnen intendiert werden, und latenten Funktionen, die nur der Beobachter durchschaut, zu unterscheiden, lässt dabei allerdings die Fragen offen, wie Akteure etwas intendieren können, ohne die Funktion zu gefährden, und woraus Beobachter schließen können, dass den Akteuren etwas nicht bewusst ist.
Und Luhmann kritisiert die kausalwissenschaftliche Einschränkung eines Funktionalismus, der die Funktion, also Wirkung, eines Phänomens zu dessen Ursache erklärt. Diesem Vorgehen widerspricht, dass die kausale Erklärung in der Moderne einen zeitlichen Richtungssinn erhalten hat, den sie in der eher zirkulären Kosmologie der Antike nicht hatte. Die ›causa finalis‹ gerät damit in die Schwierigkeit, das Vorhergehende aus dem Nachfolgenden zu erklären. Überdies musste man in der Moderne mit dem Abschied von der Ontologie einsehen, dass die Anzahl möglicher Ursachen und Wirkungen unendlich ist. Damit wird die funktionalistische Behauptung invarianter Bedürfnisse, Leistungen und Reziprozitäten problematisch. Die Invarianz kann nicht mehr als die des Forschungsgegenstands behauptet werden, sondern fällt auf den Beobachter und dessen ideologische Voreinstellung zurück.
Die funktionale Analyse eröffnet einen Vergleichshorizont von Möglichkeiten, der funktionale Äquivalente und Substitute in den Blick rückt, jedoch nur eingelöst werden kann, wenn eine Struktur, ein Bezugssystem, benannt wird, das die Auswahl der Variationsmöglichkeiten steuert.
[139]Literatur
Cassirer, Ernst, 1980: Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt (1910). – Davis, Kingsley, 1959: The Myth of Functional Analysis as a Special Method in Sociology and Anthropology; in: American Sociological Review 24, 757–772. – Durkheim, Emile: 1895: Les règles de la méthode sociologique, Paris (dt. 1961). – Luhmann, Niklas, 1962: Funktion und Kausalität; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14, 617–644. – Malinowski, Bronislaw, 1944: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, Chapel Hill, NC (dt. 2005). – Merton, Robert K., 1968: Manifest and Latent Functions; in: ders.: Social Theory and Social Structure, revised and enlarged edition, New York, 73–138 (1948). – Radcliffe-Brown, Alfred R., 1935: On the Concept of Function in Social Sciences; in: American Anthropologist 37, 394–402.
Dirk Baecker
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