Название | Einführung in die philosophische Ethik |
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Автор произведения | Dietmar Hübner |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846356616 |
2.2 Kohlberg: Die sechs Stufen der Moralentwicklung
Psychologische Untersuchungen zur Moralität von Individuen finden sich bei einer Reihe von Autoren. Auf besonderes Interesse ist dabei die Frage nach der zeitlichen Entwicklung moralischer Einstellungen über verschiedene Lebensstadien hinweg gestoßen. Jean Piaget (1896–1980) hat sich in dieser Hinsicht als einer der ersten Psychologen intensiv mit der Moralentwicklung von Kindern auseinandergesetzt. Bekannter noch sind die Arbeiten von Lawrence Kohlberg (1927–1987) geworden, der diese entwicklungspsychologische Perspektive über die Kindheit hinaus bis in das Erwachsenenalter ausgedehnt hat.
(1) Zu diesem Zweck hat Kohlberg über Zeiträume von bis zu 30 Jahren umfangreiche Längsschnittstudien angestellt, deren Hauptbestandteil halbstrukturierte Interviews von ca. 45 Minuten Dauer waren. In diesen Interviews konfrontierte er seine Probanden mit kurzen Fallgeschichten, die moralische Dilemmasituationen zum Thema hatten. Beispielsweise standen darin gesetzliche Vorgaben in Konflikt mit menschlichem Wohlergehen, oder Solidaritätsbeziehungen gerieten in Widerspruch zu Wahrhaftigkeitspflichten. Ein typisches Fallbeispiel ist das sogenannte ›Heinz-Dilemma‹:
»In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 200 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, daß seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: ›Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.‹ – Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll.« [KOHLBERG 1968–1984, 495]
Kohlberg ließ seine Probanden Einschätzungen abgeben, wie man sich in Fällen der geschilderten Art verhalten solle. Vor allem fragte er eindringlich nach den Begründungen, die sie für ihre Entscheidungen angeben konnten. Das Hauptergebnis, das er aus diesen Studien ableitete, lautet wie folgt: Jeder Mensch, unabhängig von Kultur oder Geschlecht, durchläuft eine feste Stufenfolge von Typen moralischer Urteile. Die Reihenfolge der absolvierten Stufen ist stets dieselbe, insbesondere können keine Stufen während der Entwicklung übersprungen werden. Rückfälle kommen in der Regel nicht vor, allerdings werden die höchsten Stufen von den meisten Menschen nicht erreicht.
(2) Genauer identifiziert Kohlberg drei Niveaus mit jeweils zwei Stufen der moralischen Entwicklung. Das Gesamtschema von insgesamt sechs Stufen hat er gelegentlich leicht modifiziert und ergänzt, in seinen wesentlichen Komponenten aber beibehalten [vgl. KOHLBERG 1968–1984, 26f., 51–53, 128–132].
Auf dem präkonventionellen Niveau bewegen sich üblicherweise Kinder bis zum Alter von ca. neun Jahren, aber auch jugendliche oder erwachsene Straftäter. Diese Ebene zeichnet sich durch eine strikt egozentrische Moralität aus, deren Urteile sich allein an den direkten Konsequenzen für den Handelnden selbst orientieren. Die 1. Stufe ist auf die Vermeidung von Strafe ausgerichtet (how can I avoid punishment?). Moral wird hier als bloßer Gehorsam gegenüber bestehenden Autoritäten konzipiert. Als erlaubt gilt, was von Mächtigeren zugelassen wird, Verhaltensregeln werden als zu befolgen angesehen, um Sanktionen zu vermeiden. Auf der 2. Stufe kommen die bewusste Erkenntnis fremder Bedürfnisse und die gezielte Befriedigung eigener Bedürfnisse hinzu (what’s in it for me?). Dies umfasst die negative Strafvermeidung der vorangehenden Stufe, ergänzt sie aber um das positive Abzielen auf mögliche Belohnungen. Zudem werden nun fremde Wünsche wahrgenommen und befriedigt, damit die eigenen Wünsche beachtet und zufriedengestellt werden, so dass Moral insgesamt als ein Austausch von Gefälligkeiten verstanden und gelebt wird, gemäß dem Motto ›Wie du mir, so ich dir‹.
Auf dem konventionellen Niveau befindet sich ein Großteil der Jugendlichen und Erwachsenen. Die ichbezogene Haltung der vorangehenden Ebene wird hier durch eine gemeinschaftsbasierte Moralität abgelöst, die auf einer ernsthaften Identifikation und aufrichtigen Loyalität mit den Vorstellungen und Strukturen des persönlichen Umfelds bzw. der Gesellschaft insgesamt beruht. Die 3. Stufe ist durch das Bewusstsein fremder Erwartungen und das Bestreben nach entsprechender Anerkennung geprägt (Mentalität des good boy/nice girl). Moralische Stellungnahmen rekurrieren nicht länger auf die materiellen Konsequenzen, die Handlungen in Form von Strafe oder Belohnung nach sich ziehen, sondern auf den sozialen Respekt, den man für das eigene Verhalten in seiner Umgebung findet. Die Rollenvorgaben des Beziehungsumfelds werden dabei unhinterfragt akzeptiert, Zustimmung oder Ablehnung anderer sind direkter Maßstab des Handelns und unmittelbare Quelle von Selbstwert- bzw. Schuldgefühlen. Auf der 4. Stufe dominiert die Auffassung, dass bestimmte Regelungen für das gemeinschaftliche Zusammenleben unentbehrlich und deshalb einzuhalten sind (Bedeutung von law and order). Im Vordergrund steht nicht mehr der Wunsch nach Billigung durch nahestehende Bezugspersonen, sondern das Bekenntnis zur Relevanz sozialer Normen. Moralische Bewertungen stützen sich wesentlich darauf, dass die Einhaltung von ›Gesetz und Ordnung‹ notwendig ist, um den Erhalt der bestehenden Gesellschaft zu sichern, deren Gefüge ohne kritische Distanz bejaht wird.
Das postkonventionelle Niveau erreicht nach Kohlberg nur eine Minderheit von Erwachsenen. Hier emanzipiert sich Moralität von vorgegebenen Erwartungen und Ordnungen, um stattdessen auf unabhängige Standards mit übergeordneter Gültigkeit zu rekurrieren. Auf der 5. Stufe ist die Einhaltung freier Übereinkommen zum Vorteil der beteiligten Individuen der relevante Maßstab (von ca. 25% aller Erwachsenen erreicht). Es wird nicht länger jede Norm anerkannt, auf der die bestehende gesellschaftliche Struktur beruht, sondern es werden nur solche Normen gebilligt, die auf soziale Übereinkunft zurückgehen und dem allgemeinen Nutzen dienen. Zentraler Referenzpunkt moralischer Stellungnahmen ist das durch solche Vereinbarungen zu realisierende ›größte Glück der größten Zahl‹. Die 6. Stufe stellt universelle Prinzipien sehr abstrakter Natur in den Vordergrund (von unter 5% aller Erwachsenen erreicht). Moral wird nun nicht mehr als freie Verabredung zum größtmöglichen Vorteil verstanden, sondern als verbindliches Set von allgemeingültigen Grundsätzen, denen gesellschaftliche Übereinkünfte auch ungeachtet ihres etwaigen Nutzens zu entsprechen haben. Ihr Inhalt sind dabei fundamentale ethische Prinzipien wie die Anerkennung gleicher Menschenrechte oder die Achtung der unverletzlichen Menschenwürde.
Die sechs Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg | |
Präkonventionelles Niveau | 1. Stufe: Strafvermeidung durch Gehorsam2. Stufe: Bedürfnisbefriedigung durch Austausch |
Konventionelles Niveau | 3. Stufe: Erwartung und Anerkennung4. Stufe: Gesetz und Ordnung |
Postkonventionelles Niveau | 5. Stufe: freie Übereinkunft zum allgemeinen Nutzen6. Stufe: universelle Prinzipien abstrakter Natur |
Bei der Einordnung, auf welcher dieser sechs Moralstufen sich eine bestimmte Person befindet, ist nicht so sehr entscheidend, für welche Handlungsalternative sie sich in einem gegebenen Fallbeispiel entscheidet, sondern vielmehr, welche Form der Begründung sie hierfür angibt. Dies lässt sich an dem oben zitierten ›Heinz-Dilemma‹ leicht verdeutlichen: Lehnt jemand den Diebstahl ab, weil der Ehemann sonst eine Haftstrafe riskiert, so befindet er sich auf der 1. Stufe. Lehnt er ihn hingegen ab, weil er das Eigentum anderer Personen für grundsätzlich unantastbar