Einführung in die philosophische Ethik. Dietmar Hübner

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Название Einführung in die philosophische Ethik
Автор произведения Dietmar Hübner
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783846356616



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alt="image"/>). Auch dieses Adjektiv kann zunächst wertfrei verwendet werden und bedeutet dann ›die Sitten betreffend‹ oder ›den Charakter betreffend‹: Ein Problem oder eine Diskussion lässt sich in diesem Sinne als ēthikos bezeichnen, so wie man auch im Deutschen von einer ›ethischen Frage‹ oder einer ›ethischen Debatte‹ spricht. Überdies kann das Adjektiv aber auch eine positive Wertung zum Ausdruck bringen, im Sinne von ›gesittet‹ oder ›gut‹: Ein Verhalten oder eine Person als ēthikos zu bezeichnen, impliziert eine positive Beurteilung.

      (2) Das deutsche Wort ›Moral‹ stammt vom lateinischen mos ab. Dabei stellt mos im Wesentlichen das lateinische Pendant zum griechischen ēthos dar: Nicht zuletzt übersetzen antike Autoren, die zwischen griechischer und lateinischer Kultur und Philosophie vermitteln, ēthos zumeist mit mos. Auch mos hat entsprechend zum einen eine kollektive Bedeutungsebene, auf der es ›Sitte‹, ›Gewohnheit‹, ›Brauch‹, oder auch ›Einrichtung‹, ›Verfahren‹, ›Mode‹ heißt. Zum anderen kennt es eine individuelle Verwendungsweise, in der es ›Charakter‹, ›Denkart‹, ›Gesinnung‹, oder auch ›Wesen‹, ›Wille‹, ›Eigenwille‹ bedeutet. Dabei gehen beide Ebenen, kollektive wie individuelle, wiederum mit keiner Wertung einher: Die mos eines Volkes oder einer Person kann richtig oder falsch beschaffen sein oder auch als gänzlich wertneutral eingeschätzt werden.

      Auch im Lateinischen existiert ein korrespondierendes Adjektiv, nämlich moralis. Und einmal mehr hat dieses Adjektiv einerseits einen wertfreien Gebrauch, als ›die Sitten betreffend‹ oder ›den Charakter betreffend‹: Ein Problem oder eine Frage lässt sich mit Blick auf seine Natur bzw. ihren Gegenstand als moralis bezeichnen. Andererseits kann dieses Adjektiv auch mit einer positiven Wertung einhergehen, also ›sittlich‹ oder ›gut‹ heißen: Ein Verhalten oder eine Person als moralis zu bezeichnen, geht mit einem Lob einher, so wie auch im Deutschen die Wendungen ›moralische Handlung‹ oder ›moralischer Mensch‹ eine entsprechende Billigung zum Ausdruck bringen.

      (3) Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass im Altgriechischen noch ein verwandtes Wort auftaucht, nämlich ethos (

, mit kurz gesprochenem ɛ = epsilon). Die Bedeutung liegt sehr nah bei ēthos, indem ethos einmal mehr sowohl kollektive Sitten und Gebräuche als auch individuelle Gewohnheiten und Lebensweisen bezeichnet. Der Inhalt von ethos ist allerdings etwas enger, insofern es eher eine äußerliche Befolgung als eine tiefere Identifikation mit den gegebenen Sitten, eher eine angenommene Gewohnheit als eine bewusste Entwicklung des eigenen Charakters andeutet. Entsprechend wird, wenn es in klassischen Texten um moralische Fragen geht, zumeist das Wort ēthos mitsamt den abgeleiteten Gestalten verwendet (beispielsweise benutzt Aristoteles für die sittlichen Tugenden die griechische Bezeichnung aretai ēthikai [ARISTOTELES, NE, I.13, 1103a]).

      In gewissem Umfang ist das altgriechische ēthos auch unmittelbar als Fremdwort in die lateinische Sprache eingeflossen. So kennt das Lateinische beispielsweise das Wort ethologus. Hierbei handelt es sich um ein lateinisches Fremdwort altgriechischen Ursprungs, das so viel wie ›Charakterdarsteller‹ oder auch ›Possenreißer‹ bedeutet. Grundsätzlich wird aber, wenn im philosophischen Latein ethische Diskussionen geführt werden, das Wort mos mit seinen verwandten Formen gebraucht (bei Thomas von Aquin etwa heißen die sittlichen Tugenden virtutes morales [THOMAS VON AQUIN, ST, I–II, Quaestio 58]).

      Trotz leichter Nuancen im Bedeutungsspektrum sind somit das altgriechische ēthos und das lateinische mos, ebenso wie die zugehörigen Adjektive ēthikos und moralis, im Wesentlichen synonym. Im modernen deutschen Sprachgebrauch liegen die hiervon abgeleiteten Wörter ›Moral‹ bzw. ›Ethik‹ jedoch auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen.

      Sucht man nach einer kurzen und prägnanten Begriffsbestimmung von ›Moral‹, so ist die folgende Definition passend und aufschlussreich:

       Definition ›Moral‹

      Unter einer Moral versteht man ein Normensystem, dessen Gegenstand menschliches Verhalten ist und das einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erhebt.

      Eine ›Moral‹ ist also eine Sammlung von Maßstäben, Werten, Urteilen, die sich auf menschliche Haltungen, Aktionen, Verrichtungen beziehen und hierin eine strikte, bedingungslose, unbeschränkte Verbindlichkeit geltend machen. Eine Moral kann gruppenbezogene oder personspezifische Wertüberzeugungen für die private Lebensführung enthalten, aber auch gesellschaftsweite oder menschheitsumspannende Normvorschriften für das öffentliche Zusammenleben, sie kann als Basis für persönliche Billigung bzw. Missbilligung dienen, aber auch als Grundlage für gesetzliche Belohnung oder Bestrafung. Diese Worterklärung ist sicherlich nicht erschöpfend, aber sie gibt die wesentlichen Aspekte dessen wieder, was man heutzutage unter ›Moral‹ versteht. Insbesondere lassen sich an ihre drei Hauptkomponenten wichtige Erläuterungen zum Moralbegriff knüpfen.

      (1) Offensichtlich gibt es eine Mehrzahl solcher Normensysteme, die menschliches Verhalten betreffen und dabei mit unbedingtem Anspruch auftreten. Entsprechend kann ›Moral‹ ohne Weiteres im Plural stehen: Es gibt verschiedene ›Moralen‹, beispielsweise in unterschiedlichen religiösen Texten (hinduistischen Werken, buddhistischen Schriften, den Zehn Geboten, der Bergpredigt, dem Koran etc.) oder in abweichenden kulturellen Formationen (die stoische Moral der Antike, die höfische Moral des Mittelalters, die humanistische Moral der Renaissance u.a.). Verschiedene ›Moralen‹ sind auch in unterschiedlichen politischen Strömungen wirksam (Liberalismus, Marxismus, Menschenrechtsdenken etc.) oder werden für bestimmte abgegrenzte Personengruppen formuliert (Ärzte, Wissenschaftler, Journalisten, Eltern, Lehrer u.a.). Sogar einzelne Menschen entwerfen mitunter besondere ›Moralen‹: Propheten, Künstler, Schriftsteller, Nonkonformisten und Revolutionäre haben dies immer wieder getan, und möglicherweise ist jeder moderne Mensch in pluralistischen Gesellschaften ein Stück weit aufgefordert, seine je eigene ›Moral‹ zu wählen und zu entwickeln.

      Diese Pluralität der Moralen impliziert nicht unbedingt Streit: Manchmal werden ähnliche Grundüberzeugungen nur abweichend akzentuiert, ohne dass ernstere inhaltliche Differenzen vorlägen. Manchmal decken verschiedene Moralen allein unterschiedliche Handlungsbereiche ab, so dass ihre abweichenden Vorgaben einander nicht unmittelbar berühren (Differenzen in den Moralen für Ärzte, Journalisten oder Lehrer müssen nicht problematisch sein, solange niemand mehreren dieser Gruppen gleichzeitig angehört). Zuweilen aber kommt es zu Konflikten: Mitunter formulieren Moralen gegensätzliche Vorstellungen davon, was richtiges Verhalten ist. Und dabei betreffen ihre widerstreitenden Unbedingtheitsansprüche ein und denselben Handlungssektor, ohne sich auf verschiedene Personengruppen aufteilen zu lassen (es gibt widersprüchliche Einschätzungen dahingehend, was angemessenes Verhalten von Ärzten, von Journalisten oder von Lehrern wäre).

      Bei alledem setzt der Begriff ›Moral‹ wiederum keine Wertung voraus: Bezeichnet man ein Normensystem im Sinne der obigen Definition als ›Moral‹, so heißt dies keineswegs, dass man selbst dieses System gutheißt. Man behauptet lediglich, dass dieses System seinerseits bestimmte Vorgaben für menschliches Verhalten formuliert und dabei unbedingte Gültigkeit für die entsprechenden Personen beansprucht. Es ist daher ohne Weiteres korrekt, etwa von einer ›Moral der Mafia‹ zu sprechen: Ganz sicher hat man es hier mit einem Verhaltenskodex zu tun, der Menschen mit einem Unbedingtheitsanspruch konfrontiert. Ganz sicher wird man aber davon ausgehen dürfen, dass dieser Kodex seinem Inhalt nach höchst verwerflich ist.

      Auch das Adjektiv ›moralisch‹ kennt zunächst eine wertfreie Verwendung: In dieser besagt es ›aus den Vorgaben der Moral der betrachteten Person entspringend‹. So redet man etwa von moralischen Urteilen, Gründen, Überzeugungen, Bedenken etc., die eine Person hegen mag. Der Gegensatz hierzu wird durch das Adjektiv ›nichtmoralisch‹ zum Ausdruck gebracht: Dies kennzeichnet Stellungnahmen, Bevorzugungen oder Meinungen, die eben