Название | Einführung in die philosophische Ethik |
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Автор произведения | Dietmar Hübner |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846356616 |
Im Englischen etwa benennt ethics zum einen die akademische Disziplin (wie ›Ethik‹ im Deutschen). Zum anderen aber kann ethics auch ein bestimmtes Normensystem bezeichnen, weitgehend synonym zu den englischen Alternativen morality oder morals (bzw. zum deutschen ›Moral‹). Das Adjektiv ethical zeigt entsprechend manchmal die Ebene der wissenschaftlichen Reflexion, manchmal aber auch die Ebene der unmittelbaren Stellungnahme an (im letzteren Fall gleichbedeutend zum Adjektiv moral). Folglich ist es im Englischen durchaus korrekt, von ethical behaviour oder unethical behaviour zu sprechen (was wesentlich sinngleich zu moral behaviour bzw. immoral behaviour ist).
In das Deutsche und in andere Sprachen ist zudem das griechische ēthos bzw. ethos auch unmittelbar eingewandert, eben in Gestalt des Wortes ›Ethos‹. Darunter versteht man in der Regel eine spezielle Art von Moral, deren Gehalte und Vorschriften besonders prägend für die Identitätsbildung und das Selbstverständnis sind. Ein ›Ethos‹ ist eine oftmals über lange Zeiträume gewachsene und tradierte Moral, die ihre Geltung auf bestimmte Personen oder festumrissene Gruppen erstreckt und deren Lebensformen und Tätigkeiten wesentlich gestaltet oder überhaupt erst definiert. In diesem Sinne spricht man etwa von einem ›Standesethos‹ oder einem ›Berufsethos‹, vom ›Ethos eines Arztes‹ oder vom ›Ethos der Wissenschaft‹.
In der Tradition der Diskursethik, wie sie von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas begründet wurde, findet sich eine spezielle Verwendungsweise namentlich der Adjektive ›ethisch‹ und ›moralisch‹, die gelegentlich für Verwirrung sorgt. Insbesondere hat es auf den ersten Blick den Anschein, als hätten die beiden Begriffe in dieser Tradition gegenüber dem oben erläuterten Wortgebrauch eine geradewegs vertauschte Bedeutung. So spricht Habermas zum einen von ›ethischen Überzeugungen‹ im Sinne von Einstellungen bezüglich eines guten Lebens. Dies sind private, existenziell bedeutsame Werthaltungen, die der gelungenen Orientierung des eigenen Daseins dienen. Er spricht zum anderen von ›moralischen Normen‹ im Sinne von Regelungen für eine gerechte Gemeinschaft. Dies sind öffentliche, universell verbindliche Ordnungsformen, welche den unparteilichen Ausgleich von widerstreitenden Interessen anzielen [HABERMAS 1991, 36–40, 100–118].
In der hier verwendeten Terminologie bilden Habermas’ ›ethische Überzeugungen‹ also einen Teilbereich der moralischen Stellungnahmen, nämlich jenen Ausschnitt, der sich mit der Entscheidung für die persönliche Lebensführung befasst. Demgegenüber machen Habermas’ ›moralische Normen‹ einen anderen Sektor der moralischen Festlegungen in obiger Wortbedeutung aus, nämlich jene Normbereiche, die sich mit der Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens beschäftigen. In einem gewissen Sinne steht damit bei Habermas ›Moral‹ höher als ›Ethik‹: Das ›Moralische‹ kennzeichnet die vorrangigen, universellen und unparteilichen Normen der gerechten Interessenabwägung, das ›Ethische‹ die nachrangigen, individuellen oder kollektiven Entwürfe einer guten Lebensführung. Im üblichen Wortgebrauch ist das Stufungsverhältnis umgekehrt, allerdings nicht in einem inhaltlichen, sondern in einem systematischen Sinne: Dort ist Ethik die übergeordnete, wissenschaftliche Reflexionsebene, Moral die untergeordnete, vorwissenschaftliche Gegenstandsebene.
Die Habermas’sche Wortverwendung scheint sich dadurch zu erklären, dass sein Adjektiv ›ethisch‹ eher von ›Ethos‹ als von ›Ethik‹ abgeleitet sein könnte: Immerhin bezeichnet ein ›Ethos‹ im üblichen Verständnis gerade eine solche Moral, die wesentlich für die individuelle oder kollektive Lebensgestaltung und Identitätsbildung ist (also genau die ›ethischen‹ Werteinstellungen in Habermas’ Wortsinn). Den Begriff ›Ethik‹ benutzt demgegenüber auch Habermas mitunter in herkömmlicher Weise für jene philosophische Disziplin, die sich allgemein mit der Beschaffenheit und Gültigkeit von Wertungen befasst (also sowohl von ›ethischen‹ Überzeugungen als auch von ›moralischen‹ Normen in seinem Wortsinn).
Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen dem Habermas’schen Vokabular und der üblichen Terminologie spannungsreich: Habermas verwendet den Terminus ›Ethik‹ zuweilen auch, um speziell den Bereich seiner ›ethischen Überzeugungen‹ zu benennen (statt dass er hier bevorzugt von ›Ethos‹ sprechen würde). Entsprechend hält er die Bezeichnung seiner eigenen Theorie als ›Diskursethik‹ für streng genommen unpassend, eben weil ›ethische Diskurse‹ allein die gute Lebensführung betreffen, und würde die Wendung ›Diskurstheorie der Moral‹ grundsätzlich vorziehen, weil erst ›moralische Diskurse‹ sich mit verbindlichen Handlungsnormen befassen (und dieses Thema ihn vorrangig interessiert) [HABERMAS 1991, 7].
Ethik, definiert als Wissenschaft von der Moral, kann im Wesentlichen drei verschiedene Zugänge zu ihrem Gegenstand wählen. Entsprechend lässt sich Ethik in drei Ebenen einteilen, denen sich dieses Buch im weiteren Verlauf in unterschiedlicher Ausführlichkeit widmet.
Die deskriptive Ethik befasst sich mit der Frage, welche Moralen es überhaupt gibt: Sie klärt, welchen Moralen sich Individuen, etwa im Laufe ihrer Entwicklung oder je nach ihrer Herkunft und Erziehung, bevorzugt zuwenden. Sie untersucht, welche moralischen Auffassungen in bestimmten Gesellschaften, etwa in verschiedenen Kulturkreisen oder in sozialen Kleingruppen, vertreten werden. Somit wählt sie, wie der Name bereits sagt, eine beschreibende Perspektive. Sofern sie einen hinreichenden Anteil an Beobachtungen oder Experimenten enthält, wird sie auch als ›empirische Ethik‹ bezeichnet. Das folgende Kapitel 2 dieses Buchs stellt beispielhaft einige wichtige Ansätze der deskriptiven Ethik vor.
In der normativen Ethik geht es um die Frage, wie sich Moralen begründen lassen: Sie bemüht sich, grundlegende Argumente für oder gegen moralische Regeln und Positionen zu formulieren. Sie versucht, bestehende Moralen zu verteidigen oder zu widerlegen, vorgeschlagene Moralen zu prüfen und die richtige Moral auszuwählen oder sogar ein eigenständiges Moralsystem zu entwerfen. Entsprechend ist sie durch eine legitimatorische Perspektive gegenüber der Moral gekennzeichnet. In überwiegendem Umfang ist es diese normative Ethik, die in der Philosophie unter dem Titel ›Ethik‹ betrieben wird, etwa in den klassischen ethischen Werken von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Bentham, Mill oder Sidgwick. Entsprechend steht sie auch in weiten Teilen dieses Buches, nämlich in den Kapiteln 4 bis 6, im Vordergrund, wenn es um die Ansätze von Tugendethik, Deontologie und Teleologie geht.
Die Metaethik schließlich beschäftigt sich mit dem Problem, welchen grundsätzlichen Status moralische Begriffe, Aussagen oder Argumentationen haben: Was ist die Bedeutung des moralischen Begriffs ›gut‹? Lässt er sich über andere Begriffe definieren, oder ist er ein undefinierbarer Grundbegriff? Welche Art von Einsicht vermitteln moralische Aussagen? Können sie einen objektiven Wahrheitsanspruch erheben, oder vermitteln sie nur subjektive Geschmacksurteile? Worauf beziehen sich moralische Argumentationen? Stützen sie sich auf allgemeine Prinzipien, oder gründen sie in konkreten Einzelfallurteilen? Bei all diesen Fragen geht es nicht darum, bestimmte moralische Wertungen zu rechtfertigen oder anzugreifen, sondern allein darum, in sehr grundsätzlicher Perspektive herauszufinden, welche Sprachgestalten, Kenntnisweisen und Objekttypen im moralischen Denken präsent sind. Nicht zuletzt steht hierbei auf dem Spiel, ob ›normative Ethik‹ überhaupt ein sinnvolles Geschäft ist. Falls sich nämlich herausstellen sollte, dass moralische Aussagen ohnehin keinen Wahrheitsanspruch geltend machen können, bräuchte man sich auch nicht damit abzugeben, nach der richtigen Moral zu suchen. Eine solche richtige Moral gäbe es dann gar nicht, und die vielfältigen faktischen Moralen, welche die ›deskriptive Ethik‹ auflistet, wären nichts als letztlich beliebige Setzungen ohne höheren verbindlichen Gehalt. Diesem und anderen metaethischen Problemen widmet sich Kapitel 3 dieses Buches.
Drei Ebenen der Ethik
–Welche Moralen gibt es? → deskriptive Ethik