Einführung in die philosophische Ethik. Dietmar Hübner

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Название Einführung in die philosophische Ethik
Автор произведения Dietmar Hübner
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783846356616



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Teilsysteme. Dies liegt insbesondere daran, dass sich Funktionssysteme durch ihre ›operative Schließung‹ auszeichnen: Eigene Operationen folgen stets vorhergehenden Operationen des gleichen Typs, nicht den Vorgaben anderer Systeme.

      Zwar kann jedes System auf seine Umwelt Bezug nehmen, zu der auch die jeweils anderen Systeme gehören. Es kann also zweifellos über die anderen Systeme kommunizieren. Aber es tut dies allein in seiner speziellen Kommunikationsform, mit seinem Code und gemäß seinem Programm. Es kann daher nicht mit den anderen Systemen kommunizieren, nicht deren Bewertungen beeinflussen oder diese in die eigenen Bewertungen aufnehmen. Gewiss existieren ›strukturelle Kopplungen‹ zwischen Systemen und ihrer Umwelt, durch die ein System in einem anderen System bestimmte Reaktionen oder Resonanzen hervorrufen kann. Doch es gibt keine geteilte Kommunikationsform, die eine gemeinsame, kontrollierte Ausrichtung der Teilsysteme oder gar der Gesamtgesellschaft ermöglichen würde.

Funktionssysteme und Kommunikationsformen nach Luhmann
SystemFunktionCodeProgramm
WirtschaftMinderung von ökonomischer Knappheithaben/nichthabenMarkt
PolitikKapazität zu bindenden Entscheidungenmachtüberlegen/machtunterlegenWahl
WissenschaftErzeugung von Wissenwahr/falschTheorien
RechtKlärung von Erwartungenrecht/unrechtGesetze

      Diese Liste ist nicht vollständig: Es gibt noch weitere Teilsysteme, etwa Religion oder Erziehung, mit ihren eigenen Funktionen, Codes und Programmen. Die Moral gehört allerdings nicht dazu: Moral hat zwar eine Funktion, nämlich die Zuweisung von Achtung und Missachtung. Eben diese Funktion ist aber zu allgemein und zu fundamental, als dass sich Moral damit zu einem klar definierten Teilsystem ausdifferenzieren könnte. Ihre Allgemeinheit und Fundamentalität bedeutet damit nach Luhmann keineswegs einen Vorteil. Im Gegenteil, fehlende Ausdifferenzierung macht die Moral zu einer weit weniger beständigen und wirksamen Erscheinung als die skizzierten Funktionssysteme. Vor allem aber kann auch die Moral nicht steuernd in jene Systeme eingreifen.

      Auch Moral hat einen Code, nämlich gut/schlecht. Mit diesem binären Präferenzcode vollzieht sie ihre spezifische Zuweisung von Achtung oder Missachtung. Er unterliegt seinerseits bestimmten Programmen, nämlich den jeweils herrschenden Moralvorstellungen in einer Gesellschaft. Jene Moralvorstellungen können sich durchaus auf Geschehnisse in anderen Funktionssystemen beziehen und ihnen entsprechend die Werte gut/schlecht zuweisen. Aber sie können nicht die Codes dieser anderen Funktionssysteme programmieren. Vielmehr folgen deren Codes eigenen Programmen, worin gerade der Sinn funktionaler Ausdifferenzierung besteht [vgl. LUHMANN 1978, 57–59, 88–91].

      In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist es daher nach Luhmann eine verfehlte Erwartung, dass Moral kontrolliert auf die einzelnen Teilsysteme einwirken und diese zu moralischen Funktionsvollzügen bewegen könnte. Moral kann nicht bestimmen, wie die Wertzuweisungen in den anderen Systemen erfolgen, da diese Systeme weitgehend autonom agieren, gemäß ihren je eigenen Aufgaben. Insbesondere ist es nach Luhmann ein irriger Gedanke, dass zunächst Moral die Politik bestimmen könnte, etwa über demokratische Wahlen oder geeignete Beratung, und anschließend die Politik die anderen Funktionssysteme kontrollieren sollte, etwa die Wirtschaft über das Recht. Erstens ist die Politik nicht moralisch zu programmieren, da sie alles externe Geschehen, mit dem sie konfrontiert wird, und insbesondere alle moralischen Forderungen, die an sie herangetragen werden, in ihre spezifische Sprache von Macht oder Ohnmacht, von Regierung oder Opposition übersetzt. Diese Übersetzung ist stets verlustbehaftet, so dass sich moralische Forderungen niemals in ihrer unverfälschten Gestalt in die Politik transferieren lassen. Zweitens ist die Politik ihrerseits nur ein Teilsystem, keineswegs die Spitze oder das Zentrum der Gesellschaft, und kann daher mit ihren Beschlüssen zwar sicherlich Effekte in anderen Systemen erzeugen, aber kaum gezielte Absichten verwirklichen oder konkrete Vorgaben umsetzen. Versuche etwa, mit rechtlichen Regelungen wie Steuergesetzen politische Ziele in der Wirtschaft durchzusetzen, misslingen regelmäßig, weil die Wirtschaft alle politischen bzw. rechtlichen Vorgaben in ihren Code, d.h. in die Frage von Haben oder Nichthaben, von Zahlen oder Nichtzahlen, überträgt und diese Übertragung immer unvollkommen bleibt. Der ganze Ansatz einer Moralisierung der Politik und einer Politisierung anderer Systeme ist damit nach Luhmann hinfällig [LUHMANN 2002, 7–14, 111–118].

      Moral kann keinen kontrollierenden Einfluss auf die verschiedenen Teilsysteme nehmen und deren jeweilige Funktionen auf kein sinnvolles Ziel hinordnen. Eher schon erzeugt sie schädliche Irritationen in den anderen Systemen. Entsprechend hat sie auch keine Integrationskraft für die Gesamtgesellschaft. Stattdessen weist sie ein hohes Streitpotential auf, führt zu Abstoßung und Verfeindung, erschwert mögliche Lösungen und befeuert bestehende Konflikte. Sie mag eine allgemeine Alarmierfunktion ausüben, wenn es zu gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklungen kommt (etwa in Form von sozialen Ungleichheiten oder ökologischen Krisen). Auch hier bleibt ihre Wirkung aber beliebig und inflationär, weil sie keine eindeutigen Kriterien anzubieten hat und lediglich bestehende Empörung aufheizt. Sie mag gegebene Warnsignale verstärken, wenn bestimmte Funktionssysteme durch systemfremde Einflüsse unterlaufen werden (etwa in Gestalt von Korruption in Wirtschaft oder Politik). Selbst hier aber, wo sie ohnehin keine eigenständige Perspektive eröffnet und nur eine abhängige Bedeutung hat, bleibt ihr Vorgehen utopisch und aufgeladen, indem sie die Illusion einfacher Entscheidungen weckt und Entrüstung über medienwirksame Skandale schürt [LUHMANN 1987, 121f., 318, 325; LUHMANN 1998, 248, 403–405].

      (3) Mit dieser Deutung von Moral wirkt Luhmanns Modell alles andere als normativ intendiert oder auch nur anschlussfähig: Moral erscheint als hilflos, sogar als abträglich für moderne Gesellschaften. Normative Überlegungen zur angemessenen Gestalt moralischer Überzeugungen wirken vor diesem Hintergrund naiv und verfehlt. Dennoch lässt sich fragen, ob dieser skeptischen Auffassung von Moral nicht womöglich eine verborgene normative Perspektive zugrunde liegt: Immerhin ist jene Ablehnung von Moral selbst ein Urteil. Die Frage ist, ob dieses Urteil nicht in letzter Konsequenz moralischer Art ist.

      So scheint Luhmann zunächst die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, an der Moral angeblich scheitert, tendenziell positiv zu bewerten: Möglicherweise erkennt er in ihr einen Selbstzweck, dahingehend dass sie einen höheren historischen Entwicklungsstand anzeigt, möglicherweise betrachtet er sie als Mittel, um bestimmte wünschenswerte Effekte zu erzielen. In beiden Fällen lägen bestimmte moralische Stellungnahmen zugrunde, nämlich dass jene geschichtliche Entfaltung an sich selbst gut ist bzw. dass die erreichten Vorteile tatsächlich erstrebenswert sind. Auch sein Vorwurf, Moral heize gesellschaftliche Konflikte an, bringt einen normativen Maßstab ins Spiel: Dass derartige Konflikte zu vermeiden sind, mag eine verbreitete und nachvollziehbare Auffassung sein. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um eine Bewertung moralischer Art handelt.

      Gelegentlich erklärt Luhmann auch, dass gerade das unkoordinierte Operieren der einzelnen Teilsysteme den Erfolg und sogar das Überleben der Gesamtgesellschaft gefährden könne: Die funktionale Ausdifferenzierung lasse zuweilen fehlerhafte Kommunikation, irrationale Effekte, zu wenig oder zu viel Resonanz zwischen den Systemen sowie unzureichende oder falsche Reaktionen auf die Umwelt entstehen. Auch in diesen Einschätzungen sind nicht allein deskriptive Darstellungen, sondern normative Wertungen am Werk, nämlich dass bestimmte Arten von Zusammenwirken und zumindest das Fortbestehen der Gesamtgesellschaft wünschenswert sind. Und möglicherweise könnte, anders als Luhmann meint, Moral doch hilfreich sein, um diesen Gefahren zu begegnen: Womöglich müsste es eine Moral sein, die durch die Ergebnisse von Luhmanns deskriptiver Ethik geeignet aufgeklärt über ihren begrenzten Einfluss und ihre potentielle Schädlichkeit ist. Dies ließe aber Raum für eine positive Rolle von Moral, deren Grundsätze und Kriterien eine geeignete normative Ethik im Anschluss an Luhmanns implizite Wertungen ausarbeiten könnte.

      Die drei vorangehenden Abschnitte haben keine vollständige Darstellung der deskriptiven Ethik gegeben, sondern nur einige prominente Beispiele in ihren wesentlichen Komponenten skizziert. Es gibt abweichende Ansätze in Moralphilosophie, Moralpsychologie