Название | Philosophien der Praxis |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846351345 |
|70|Die Gestalt schließlich, in der sie als unmittelbar im Vollzug gelingend vorgestellt werden kann, ist die Sittlichkeit: „Die Subjektivität [die geistige Tätigkeit im Allgemeinen, die Praxis als Subjekt ausgesprochen] ist selbst die absolute Form und die existierende Wirklichkeit der Substanz“, also der wirklichen Normen der Praxis. Sich eine solche Sittlichkeit vorstellen wiederum heißt, sich eine Praxis vorstellen, in der die perspektivische Spannung, die unsere geistigen Vollzüge wesentlich charakterisiert, durch die Art und Weise, in der wir sie vollziehen, im Verschwinden begriffen ist, sodass „der Unterschied des [handelnden] Subjekts von […der Sittlichkeit] als seinem Gegenstande, Zwecke und Macht […] nur der zugleich ebenso unmittelbar verschwundene Unterschied der Form“ ist (Hegel 1821, § 152). Auf individueller Ebene ist das das tugendhafte Leben, in dem man sich die Normen des guten Handelns und des angemessenen Urteilens (selbst auf gute Weise) zur Gewohnheit, zur „zweiten Natur“ macht. Als eine „Subjektivität, die von dem substantiellen Leben durchdrungen ist“, handelt die Tugendhafte unmittelbar gut, aber eben nicht bloß aus Gewohnheit, sondern aus zur Gewohnheit gewordener Vernünftigkeit (Hegel 1830 § 516). Dem entspricht auf überindividueller Ebene das Bild der Sittlichkeit – einer Praxis, in der objektiver Vernunftanspruch, intersubjektive Koordination und subjektives Selbstverhältnis unmittelbar zusammenstimmen.
„Sittlichkeit“ zeichnet so das Bild eines Zustandes, das unmittelbar schief ist: Denn erstens ist dieses unmittelbare Zusammenstimmen der gespannten Perspektiven auf unser Tun und Handeln, auf unser geistiges Tätigsein etwas, das sowohl praktisch wie auch begrifflich die Ausnahme, das Erklärungsbedürftige ist. Wenn stimmt, dass unsere Begriffe vom Vollzug und vom praktischen Wissen gerade durch die Spannung dieser Perspektiven definiert sind, dann gibt es, streng genommen, in der Situation sittlich gelingender Praxis kein Handeln und kein praktisches Wissen; diese Phänomene können dann schlechterdings nicht auftauchen. Das folgt aus dem Bild der „Sittlichkeit“ als eines unmittelbaren Zustands – ein Bild des Gelingens, das sich im Subjektiven an der Unmittelbarkeit der Gewohnheit orientiert, und im Gemeinsamen an der Vorstellung einer gänzlich konfliktfreien Tugendgemeinschaft. – Umgekehrt ist ein solches Bild gerade in seiner Schiefheit unvermeidlich; denn es komplettiert die Erläuterung von Vernunft als etwas, das überhaupt nur in unserer Praxis als existierend gedacht werden kann, und zu deren Daseinsweise zugleich gehört, dass sie nicht aufgeht im Gesamt derjenigen Vollzüge, Meinungen und Sitten, die sie manifestieren. Es ist auch deshalb unvermeidlich, weil die Idee der („theoretischen“ wie „praktischen“) Tugenden, also die Idee eines im Gelingensfall unmittelbaren, inter- wie intrasubjektiv leidensfreien und vernünftigen geistigen Tätigseins, nur vor dem Hintergrund einer solchen Idee von Sittlichkeit, also der Vorstellung ihrer situativen Wirklichkeit, überhaupt formulierbar ist (vgl. Gobsch 2014). Man darf nur der Suggestion dieses Bildes nicht nachgeben und meinen, dieser „verschwundene Unterschied der Form“ dürfe als bestehender faktischer Abschluss, oder zumindest etwas auf einen solchen Abschluss teleologisch Hinzielendes verstanden |71|werden (siehe oben, Abschn. 3.1. u. 4.1.). Liest man Hegels Praxisphilosophie so, wie es hier umrissen wurde, materialistisch, dann wird man gegen eine solche Tendenz daran erinnern, dass die Spannung zwischen den Perspektiven auf unser geistiges Tun diesem Tun wesentlich ist. Es gehört zu seinem Begriff, sich in einer solchen potentiell konflikthaften Gestalt zu manifestieren.
Hegel führt diese konflikthafte Gestalt detaillierter am bürgerlichen Recht als der Realisierungsform unserer Praxis vor, und die eigentlich unentschuldbare Aussparung der Rechtsform aus dieser Skizze der hegelschen Praxisphilosophie hat den Preis, dass sie ein unangemessen abstraktes – nämlich von einer zentralen Bestimmung des sittlichen Mediums unserer konkreten menschlichen Angelegenheiten absehendes – Bild zeichnet. Die Aussparung motiviert sich durch die ungeheure Breite, die im Forschungs- und Aneignungsdiskurs der Zusammenhang von „Recht“ und „Moral“ und von „Sittlichkeit“ und „Politik“ einnahm (vgl. nur Menke 1991, 1996 u. 2018, Weisser-Lohmann 2011), und der zur Frage nach dem systematischen Kern von Hegels Praxisphilosophie nicht unmittelbar beiträgt. Trotzdem wird alles falsch, wenn er einfach fehlt, weil erst mit den Details der Rechtsphilosophie die Form des gemeinsamen Lebens, auf die Hegel abzielt, als eine gesellschaftliche, genauer: eine republikanische Form verständlich wird, und erst in diesem Licht die problematischen Aspekte an der Figur der „Sittlichkeit“ – etwa ihre vormodernen Konnotationen – unübersehbar werden (vgl. Novakovic 2017).
Deshalb ist die Figur des Verzeihens, mit der die Erzählung von der „Bewegung des Anerkennens“ endete, für Hegels Praxisphilosophie emblematisch. Sie ist nur vor der begrifflichen Folie einer Idee der Sittlichkeit, oder einer Idee des gelingenden gemeinsamen Lebens verständlich, und ihre Beschreibung selbst exemplifiziert diese Idee. Sie versteht zugleich die Wirklichkeit solchen Gelingens als prekär, weil die normative – aus unpersönlicher Perspektive „moralische“, aus individueller Perspektive „ethische“ – Problemlage irreduzibel nur zur Erscheinung kommt in, und also immer bestimmt bleibt durch, die konkrete Beziehung zwischen Individuen. Deren Beziehung betrifft deshalb, weil sie im Horizont der objektiven normativen Ansprüche steht, die die Situation exemplifiziert, auch die Art, in der sie um sich wissen und sich zu sich selbst verhalten, wie sie – ganz konkret und bis in ihre affektive Leiblichkeit hinein – selbstbewusst sein können. Die Figur des Verzeihens macht so die Wirklichkeit einer praktischen Situation anschaulich, die die Form ihres Gelingens manifestiert, ohne selbst gelungen zu sein; sie verdeutlicht, wie die glückliche Auflösung einer solchen Situation auf das Tun und Handeln der beiden Beteiligten angewiesen ist (und ohne es sich nicht einstellen kann), ohne andererseits der Ideologie reiner praktischer Selbstbestimmung Vorschub zu leisten, weil die glückliche Auflösung nie von subjektivem Tun allein „bewirkt“ wäre. Und schließlich führt die Figur vor, dass die Vorstellung von Sittlichkeit, unmittelbar gelingender Praxis, allemal zurückverwiesen bleibt auf das praktische Medium der Artikulation und Überwindung dieser Unmittelbarkeit. Verzeihen ist, als Koinzidenz praktischer Haltungen, auch die Koinzidenz verzeihender Reden oder logoi; und das ganze Projekt der hegelschen Praxisphilosophie fokussiert auf solche Artikulation der Praxis. „Wir sehen hiermit wieder die Sprache als das Dasein des Geistes“, in dem die gespannten Perspektiven auf das Tätigsein, und damit das Tätigsein selbst, seine anschauliche, gegenständliche, |72|wißbare – und damit erst potentiell selbstbewusste – Form manifestiert. Im Miteinander-Sprechen „vernimmt [ein Selbst] ebenso sich, als es von den anderen vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum Selbst gewordene Dasein“ (Hegel 1807, 478f.). Darin, dass Hegel solche Situationen als eine angemessene Exemplifikation der Form wirklichen menschlichen Tätigseins – jenseits konstitutionstheoretischer Zurückführungssehnsüchte, jenseits empiristisch vorausgesetzter Sachgebietsunterscheidungen wie „Handeln“-„Denken“, „Vernunft“-„Gefühl“, schließlich jenseits naturalisierender oder theologisierender Großerzählungen – ausschließlich aus der Immanenz unserer wirklichen Lebensvollzüge entwickelt, und diese Selbstreflexion unserer Praxis als Form und Gehalt von Vernunft verständlich macht, liegt seine kolossale Zumutung an unsere denkerische „Unbefangenheit“, und seine Bedeutung für jede Praxisphilosophie.
Lektüreempfehlungen
Den vielleicht mitreißendsten Einstieg in sein Nachdenken über Praxis bietet Hegels Phänomenologie des Geistes. Der einführende Kommentar von Bertram (2017) eröffnet eine praxisphilosophische