Название | Philosophien der Praxis |
---|---|
Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846351345 |
|73|Die Einheit von Theorie und Praxis. Praxiskonzepte vom Linkshegelianismus bis zum historischen und dialektischen Materialismus
Tim Rojek
1. Einführung
Dieser Artikel vermittelt einen historisch gegliederten Überblick über die zentralen Praxiskonzepte, die im Rahmen einer inhaltlich heterogenen Ansammlung verschiedener Autoren vorzufinden sind, die sich dem Versuch verschrieben haben, die Philosophie als Wissenschaftstyp entweder so zu transformieren, dass politische Intervention zur Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein Teil der Philosophie wird oder aber diese selbst zugunsten eines neuen Typs von Wissenschaft zu überwinden, in dem Theorie und Praxis eine Einheit bilden. Während im zweiten Teil insbesondere die im Kontext des Linkshegelianismus entwickelten Praxiskonzepte präsentiert werden, wird sich der dritte Teil demjenigen von Karl Marx zuwenden. Im vierten Teil wird dann das heterogene Theoriekonglomerat des historischen bzw. dialektischen Materialismus als diejenige Ausgestaltung der marxistischen Tradition präsentiert, die den ‚Marxismus‘ als theoretische Strömung etablierte. Es ist dann wiederum diese Strömung, welche die zentrale Bezugsgröße für die im Folgenden behandelten Autoren und deren Praxiskonzeptionen bildet. Diese beziehen sich teils positiv, teils kritisch auf den historischen Materialismus. Es ergibt sich so eine problemgeschichtliche Schneise durch die von der kritischen Hegelrezeption der Linkshegelianer ausgehende Entwicklung derjenigen theoretischen Vorschläge, durch die – von einem politischen progressiven Selbstverständnis geprägt – versucht wurde, Philosophie selbst praktisch werden zu lassen.
2. Praxis und Linkshegelianismus
2.1. Linkshegelianer als Gruppe
Für die Linkshegelianer bildete die hegelsche Philosophie in Gestalt des Systems, das in Form der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (letzte bearbeitete Ausgabe 1830) vorlag, den Ausgangspunkt ihrer kritischen Anknüpfung. Hegel galt ihnen als zentraler, wenn nicht gar letzter Schritt der Philosophie. Es handelte sich um eine relativ heterogene Gruppe junger |74|Wissenschaftler zumeist aus dem Umfeld der Philosophie und Theologie, die in ihren Schriften radikale politische Forderungen nach Liberalität und Demokratie vorbrachten, dies teils in Gestalt einer massiven Religionskritik.
‚Linkshegelianer‘ stellt einen zeitgenössischen Klassifikationsbegriff dar, den diese zum Teil auch auf sich selbst anwandten, um sich von ihren Gegnern abzugrenzen. Die Gruppe und ihr Selbstverständnis zerfielen Mitte der 1840er Jahre. Der Zerfall beschleunigte sich durch politische Verfolgung, Verbote ihrer Zeitschriften und durch interne Streitigkeiten. Einzelne Mitglieder wurden ins Exil gezwungen (Zur soziologischen Analyse dieser Gruppe als kritische Intellektuelle vgl. Eßbach 1988). Sie interpretierten teils Hegel selbst, teils nahmen sie als Konsequenz aus dessen Schriften an, dass seine Philosophie als Ausdruck einer antireligiösen, vor allem antitheologischen Haltung zu verstehen sei, die sich kritisch gegen die herrschenden politischen Verhältnisse ihrer Zeit wende. Als Gegner sahen sie insbesondere die Gruppe der ‚Rechtshegelianer‘, die eine konservative Deutung der hegelschen Religionsphilosophie vertrat und damit Möglichkeiten bot, die politisch repressiven Verhältnisse der Zeit zu legitimieren. Einige der Hegelianer lassen sich jedoch keiner der beiden Gruppen zuordnen und werden zumeist als ‚Zentrumshegelianer‘ bezeichnet; sie versuchten eine mittlere Stellung zwischen den Extremen zu wahren und weder politisch liberale Positionen vollständig zu räumen noch mit dem Staat in Konflikt zu geraten.
Der Ausdruck ‚Linkshegelianer‘ wird im Beitrag verwendet, ohne damit eine Wertung präjudizieren zu wollen.
2.2. Die Genese der Linkshegelianer
2.2.1 Die Dimension der Zukunft
Eduard Gans (1797–1839) hielt als direkter Schüler Hegels in Berlin sehr populäre Vorlesungen zur hegelschen Rechtsphilosophie, in denen er deren politisch progressive Züge betonte, während er die konservativen Aspekte in den Hintergrund treten ließ. Im Vorwort seiner Neuherausgabe der hegelschen Rechtsphilosophie artikulierte er erstmals eine gewandelte Einstellung zum hegelschen System (vgl. Gans 1833, 248). Zugleich richtet Gans seine Hoffnungen auf die Zukunft, die in Hegels System, näher in seiner Philosophie der Weltgeschichte, keine Rolle spielt. Gans hingegen suggeriert, dass gerade die hegelsche Theorie, so sie sich in der Gesellschaft durchsetzt, eine gesellschaftsverändernde Kraft aufweise, die dann über sie selbst hinausführe.
Die zentrale Dimension der Zukunft wurde durch Graf August von Ciezkowski (1814–1894) aufgegriffen. In seinem Buch Prolegomena zur Historiosophie wirft Ciezkowki Hegel vor, dieser habe in seiner Geschichtsphilosophie „mit keiner Sylbe der Zukunft erwähnt“ (Ciezkowski 1838, 8), ja darüber hinaus behauptet zu haben, die Philosophie habe nur eine „rückwirkende Kraft“ (ebd., 9). Ziel des Grafen ist es nicht, jedes Spezifikum oder die konkreten Handlungen einzelner Individuen vorhersagen zu können, sondern die Etablierung allgemeiner Gesetze, die auf Basis einer Transformation des hegelschen Systems möglich sein sollen. Ciezkowski teilt die Weltgeschichte in drei Stadien ein, die er dem Gefühl (Antike), dem Denken (Gegenwart) und dem Willen (Zukunft) zuordnet. Der |75|Wille bzw. die dritte, noch in der Zukunft liegende Phase soll sich dabei durch die Verbindung von Gefühl und Denken auszeichnen und als Wille eine freie gesellschaftliche Gestaltung ermöglichen, deren zukünftiges Eintreten durch die spekulativen Geschichtsgesetze garantiert sei. Diese zukünftige Phase zeichnet sich demgemäß für Ciezkowski als Einheit von Theorie und Praxis aus. Diese Einheit lässt sich explizieren als geplante und kontrollierte Realisierung einer freien Gesellschaft. „Die dritte Determination endlich gehört der Zukunft an, sie wird das objective, wirkliche Realisiren der erkannten Wahrheit; und das ist eben das Gute, d.h. das Practische, welches das Theoretische schon in sich enthält.“ (ebd., 17) Die welthistorisch bedeutsamen Akteure der Zukunft seien demgemäß nicht mehr „blinde Werkzeuge“, sondern „bewusste Werkmeister ihrer eigenen Zukunft“ (ebd., 20, kursiv i.O.). Unter einer somit praktisch transformierten hegelianischen Philosophie versteht Ciezkowski mithin eine Philosophie, die nicht mehr auf das Erkennen des Absoluten ausgerichtet ist, sondern perfektionistisch auf die Herbeiführung der „Endbestimmung der Glückseligkeit“ (ebd.,70).
Für die weitere Entwicklung der linkshegelianischen Debatten und ihrer kritischen Rezeption bei Marx sind zwei Merkmale des Ciezkowskischen Vorschlags entscheidend: (i) zum einen seine deutliche Umstellung der spekulativen Philosophie auf die Zukunft, mit der der Anspruch einhergeht, mit philosophischen Mitteln ließen sich nicht nur gegenwärtige oder vergangene Gesellschaften auf ihre Legitimität hin prüfen, sondern auch bezüglich zukünftigen Fortschritts böte die Philosophie (zumindest) einen Orientierungsmaßstab. Mit dieser Umstellung geht zudem der Anspruch einher (ii), dass die Philosophie eine Theorie bereitstelle, mittels derer praktische Veränderung legitimiert und motivational angetrieben werden könne.
Freilich verhält sich die zweite Umstellung bei Ciezkowski relativ unklar zu seiner Vorstellung einer mit philosophischen Mitteln garantierten Herbeiführung der freien Gesellschaft der dritten Phase. Dieses Problem, die Vorschläge zu einer kritischen Transformation gegenwärtiger Gesellschaftsordnung mittels historischer Gesetzmäßigkeiten abzusichern, schlug sich in zahlreichen Marxismen (auch bei Marx selbst) in unterschiedlicher Gestalt nieder. Dabei ist gerade fraglich, inwiefern sich der Anspruch, eine Veränderung gesellschaftlicher Praxen durch theoretisch angeleitete Vorschläge im Sinne einer praktischen, auf das Gute abzielenden Philosophie mit