Philosophien der Praxis. Группа авторов

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Название Philosophien der Praxis
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Жанр Философия
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Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783846351345



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der internen und der externen |67|Perspektive und seiner praktischen Auflösung, der ihr unmittelbares Zusammenfallen anschaulich macht. Dabei entsteht der Konflikt, den Hegel inszeniert, nicht einfach deshalb, weil sich zwei Beschreibungsperspektiven eines Handelns gegenüberstehen, sondern weil es in diesem Gegenüberstehen um die Beurteilung eines Anspruchs geht, den einer gegenüber einem anderen hat – und zwar, weil dessen φ-en dem Gegenüber ein Leid oder einen Schaden zufügt. Es geht nicht um die – verwandte, aber harmlosere – Frage nach der Identität der ausgeführten Tat (ich meine, ge-φ-t zu haben, muss mich aber fragen (lassen), ob ich nicht eher ge-µ-t habe). Es geht auch nicht um eine Situation, in der noch offen ist, ob einer dem Anderen ein Leid zugefügt hat, und also die Bewertung der Tat strittig wäre (ich etwa mein φ-en für „gut“ halte, der Andere aber widerspricht); in solchen Fällen ist klar, worum gestritten wird, und auch, wie man den Konflikt ggf. unter Heranziehung eines Dritten in der Sphäre des Rechts regulieren kann (vgl. etwa Zabel 2011; Stekeler-Weithofer 2014b). Hegel inszeniert stattdessen den Fall, in dem mein Tun einem Anderen ein Leid zufügt und ich darüber Reue empfinde und um Verzeihung bitte. Der Andere macht mich hier zu Recht für sein Leid verantwortlich; ich stimme ihm in der Beurteilung der Tat als schlecht zu – und trotzdem ist es für mich wichtig, mich von der Tat distanzieren zu dürfen. Ich möchte sagen dürfen, dass auch mir das Leiden des Anderen nur zugestoßen ist, und dass deshalb die „externe“, objektive Beschreibung, aus der mein Tun ein Dem-Anderen-Leid-Zufügen war, eine zwar richtige, aber nicht das Wesentliche treffende Beschreibung dessen sei, was ich getan habe. In einer solchen Lage bedarf ich nicht (wie im Handeln) der Perspektive des Anderen, um „objektiv“ wissen zu können, was ich tue – ich möchte diese objektive Perspektive umgekehrt relativiert wissen und wünsche mir, dass der Andere mir verzeiht. Verzeihen ist seitens der Verletzten „Verzichtleistung auf sich, auf sein unwirkliches Wesen“: denn die Verletzte ist wesentlich die durch das Tun des Täters Verletzte, und ihr Verzeihen lässt dieses „Wesen“ unwirklich werden, nicht mehr das Tun und Sein bestimmen. Im Verzeihen lässt sie den „Unterschied des bestimmten Gedankens [an die Tat] und [ihr] fürsichseiendes bestimmendes Urteil fahren“, ignoriert also den objektiven Konflikt in der Beurteilung der Tat – so, wie der Täter „das fürsichseiende Bestimmen der Handlung“ fahrenlässt, und nicht mehr darauf beharrt, dass das Leid der Verletzten seinem Tun eigentlich äußerlich sei. Um Verzeihung bitten und Verzeihen sind ein gutes Beispiel für die Struktur des Anerkennens, für die Spannung polarer Perspektiven auf einen geistigen Vollzug als Tat, die im geteilten Zusammenfallen dieser Perspektiven verschwindet, ohne dass diese „Versöhnung“ aus einer dieser Perspektiven logisch folgen würde oder von nur einem der Beteiligten allein bewerkstelligt werden könnte. „Das Wort der Versöhnung“, der Vollzug des versöhnlichen Miteinandersprechens, „ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile“, nämlich einer konkreten, wirklichen Situation (Hegel 1807, 492), und das „versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein“ – ihrem Konflikt – „ablassen, ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs“. Dieses „zur Zweiheit |68|ausgedehnte Ich“ ist die endlich entwickelte, exemplarisch begriffene Form von geistig tätigem Selbstbezug überhaupt. Im Verzeihen exemplifiziert sich eine praktische Situation, in der die subjektive Perspektive, die komplementäre Perspektive der Anderen, und die unpersönliche Perspektive objektiver normativer Ansprüche zusammenstimmen und in der erlebbar wird, wie mein Tun, die von Dir erfahrene Tat und die unpersönliche Perspektive eines an objektiv vorgestellten Normen des Guten orientierten Urteilens wirklich zusammenstimmen, ohne dass dabei eine der Perspektiven durch die anderen überstimmt oder unterdrückt würde. Nicht alle Situationen, in denen einer dem Anderen verzeiht, exemplifizieren dieses Zusammenstimmen, und im Einzelfall wird es schwer sein, das Vorliegen einer solchen Koinzidenz mit letzter Sicherheit festzustellen. Wenn eine Situation aber derart die Wirklichkeit des Anerkennens exemplifiziert, dann ist sie ein Bild des gelingenden vernünftigen Lebens, ein Bild glückender Praxis. Die Idee einer derart exemplifizierten Praxis nennt Hegel „Sittlichkeit“ – das Medium, in dem „Geist“ sich im Vollzug so manifestiert, dass er „der erscheinende Gott mitten unter ihnen [ist], die sich als das reine Wissen wissen“ (Hegel 1807, 494).

      5. Sittlichkeit: Die Idee der Praxis

      Hegel nennt die Idee wirklichen Gelingens geistigen Tätigseins „Sittlichkeit“: „Die Sittlichkeit“, heißt es in der Enzyklopädie, „ist die Vollendung des objektiven Geistes, die Wahrheit des subjektiven und objektiven Geistes selbst“ – dasjenige, worin die beiden Perspektiven allererst verständlich werden, nämlich als Perspektiven auf das selbe Leben. Beide Perspektiven auf geistiges Tätigsein waren einseitig gewesen. Die Perspektive des „objektiven Geistes“ krankte daran, „seine Freiheit“, d.h. sein Wirken in unseren menschlichen Angelegenheiten „unmittelbar in der Realität, daher im Äußeren, der Sache, teils in dem Guten als einem abstrakt Allgemeinen zu haben“: die objektive Perspektive schwankte dazwischen, einerseits der Bezug auf eine bloß „unmittelbar“ vorliegende Norm (als Konvention oder Anrufung eines „Das macht man so“) zu sein, mit diesem Bezug aber andererseits die Autorität einer tatsächlich objektiven und notwendigen Norm zu beanspruchen. – Die „Einseitigkeit des subjektiven Geistes“ war umgekehrt gewesen, „abstrakt gegen das Allgemeine in seiner innerlichen Einzelheit selbstbestimmend zu sein“: das ist das Dilemma in der Vorstellung einer rein subjektiven Selbstbestimmung, in der die beanspruchte Gutheit des „Gewissens“ und die Bösheit schierer Selbstüberhöhung ununterscheidbar werden, und mit dem die praxisphilosophische Rekonstruktion ja gestartet war. Sind beide „Einseitigkeiten aufgehoben, so ist die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität sein Wissen von sich und die Gesinnung wie seine Betätigung und unmittelbare |69|allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, – die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden“ (Hegel 1830, § 513).

      Man hat diesen Bezug auf die „allgemeine Wirklichkeit als Sitte“ oft faktiv gelesen – als Bezug auf vorliegende Konventionen und Sitten, die den Subjekten auf dem Weg ihrer Erziehung und Ausbildung, ihrer Subjektwerdung, zur Gewohnheit geworden sind. Wäre das gemeint, dann wäre es in der Tat eine starke Behauptung, dass sich in diesem ganz und gar zufälligen, und darüber hinaus schon für Zeitgenossen augenfälligerweise kaum durchgängig „guten“ Ensemble von Praktiken, Gebräuchen und Normen so etwas wie ein „allgemein vernünftiger Wille“ ausdrücke. Man müsste dafür bereit seit sein, entweder bloß Faktisches als „vernünftig“ anzuerkennen, und das heißt notwendig zu legitimieren (was sich letztlich wohl nur theologisch bewerkstelligen ließe, vgl. Siep 2000, 215), oder aber einen vorliegenden Komplex von Sitten als letztlich doch gerechtfertigt wie eine überhistorische Struktur zu konzipieren, die sich nur beiläufig in den jeweils „aktuellen“ Sitten einer Zeit oder einer Gesellschaft ausdrückt (vgl. Jaeschke 2010, 385).

      Abermals ist es Hegel nicht um die Behauptung zu tun, dass solche Sittlichkeit irgendwie unproblematisch vorliegt. Hier wie im Vorigen geht es nicht um die Erklärung einer Genese der praktischen Vernunft, sondern um die Frage, wie man denken kann, dass sie wirklich ist. Man versteht diese Wirklichkeit, wenn man die perspektivische Spannung, die geistige Vollzüge auszeichnet, als situativ „aufgehoben“, irrelevant und verschwindend denken kann. „Sittlichkeit“ ist damit der Name nicht für eine Sammlung von (wo auch immer herrührenden) Normen, sondern für die Art und Weise, in der sie da sind: nämlich im Vollzug des Handelns unmittelbar. So erscheint das Sittliche, wie Hegel an einer Parallelstelle der Grundlinien schreibt, „in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen […] als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, – die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist“ (Hegel 1821, § 151). In Praxis, so wurde sichtbar, „manifestiert“ sich „der Geist“ – und zwar als die Spannung zwischen subjektiver,