Internationale Migrationspolitik. Stefan Rother

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Название Internationale Migrationspolitik
Автор произведения Stefan Rother
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846346563



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(Castles und Miller 2009, S.191). Auch innerhalb Europas mussten viele Menschen infolge des Krieges fliehen. Die größte Gruppe waren die rund 14 Millionen Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten in das heutige Gebiet Deutschlands.

      In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Richtung der Fluchtmigration dann umgedreht. Westeuropa wurde von einer Ausgangs- zu einer Zielregion für Geflüchtete. Menschen aus Afrika und Asien flohen vor allem vor Kriegen, ethnischen Konflikten, Armut, Hunger und Umweltkatastrophen, Menschen aus Osteuropa vor politischer Unterdrückung in kommunistischen Ländern in die westeuropäischen Länder, wo sie kriegsbedingte Lücken in einer boomenden Wirtschaft füllten. Bis zum Mauerbau im Jahr 1961 flohen zudem etwa 2,6 Millionen Menschen aus der damaligen DDR in die Bundesrepublik Deutschland (Sippel 2009). Während des Kalten Krieges wurde die Asylpolitik der westlichen Länder gegenüber Geflüchteten aus den kommunistischen Ländern dabei als Propaganda gegen den Kommunismus instrumentalisiert, insbesondere nach den Aufständen in Ungarn 1956 und in Prag 1968 (Castles und Miller 2009, S.191).

      Auch die verfehlte Kolonialpolitik westlicher Mächte und die Ausbreitung nicht-demokratischer Regime und Militärdiktaturen in Afrika und Asien trugen zu Armut und Unterdrückung und somit zu einer steigenden Fluchtmigration bei (Zolberg et al. 1989). Weltweites Aufsehen erregten die 1,6 Millionen südostasiatischen „Boat People“1, die vor politischer Unterdrückung in ihrem Heimatland nach dem Ende des Vietnamkrieges im Jahr 1975 in Booten über das Südchinesische Meer flüchteten. Die meisten von ihnen kamen aus Vietnam, einige aber auch aus Laos und Kambodscha. Diese „Boat People“ wurden von verschiedenen Staaten aufgenommen, 35.000 von ihnen in Deutschland (Deutsches Rotes Kreuz 2005). Über 250.000 der Geflüchteten starben aber auf der Flucht auf hoher See.

      Nach dem Kalten Krieg entstanden neue Konfliktherde. So kam es in den 1990er Jahren in Jugoslawien zu einer Reihe von Konflikten und Kriegen, die auf vielschichtigen ethnischen, religiösen und ökonomischen Auseinandersetzungen basierten. Dies löste die Flucht und Vertreibung von hunderttausenden Menschen aus. Zudem haben vor allem in Afrika und dem Nahen Osten religiöse und ethnische Auseinandersetzungen für große weitere Fluchtmigrationen gesorgt. Aus dem Nahen Osten flohen und fliehen vor allem Menschen aus Syrien und dem Irak, vor religiös-ethnischen Konflikten ebenso wie vor staatlicher Gewalt sowie der islamistischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Unter den Geflüchteten sind auch Minderheitengruppen wie Christen, Drusen oder Jesiden. In Afrika fliehen Menschen ebenfalls vor Bürgerkriegen oder, wie in Nigeria, vor radikal-islamischen Terrorgruppen, wie die Boko Haram. Drei Millionen Afghan*innen leben seit Jahrzehnten wegen des Bürgerkriegs in ihrem Land in Pakistan (Wojczewski 2015).

      Infolgedessen haben sich in den letzten Jahrzehnten die Geflüchtetenzahlen immer weiter erhöht. Ende 2019 waren weltweit über 33 Millionen Menschen in ein anderes Land geflüchtet. Hinzu kommen noch einmal über 45,7 Millionen Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes geflüchtet sind (sog. Binnenvertriebene, engl. IDPs – „internally displaced persons“). Demnach sind zurzeit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR 2020). Dies ist die höchste Zahl an Geflüchteten, die jemals offiziell ermittelt wurde.

      Abbildung 17:

      Die fünf größten Ursprungsländer von Geflüchteten 2019 (in Millionen)

       Quelle: UNHCR, Global trends. Forced displacement in 2020.

      3.2 Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR

      Aufgrund der schlimmen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen und der daraus resultierenden Fluchtbewegungen hat die internationale Staatengemeinschaft nach dem zweiten Weltkrieg neue Rahmenbedingungen für die Aufnahme und Schutzgewährung von Geflüchteten geschaffen. Hierzu wurde im Jahr 1951 auf einer UN-Sonderkonferenz die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verabschiedet.1 Sie bildet seither die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts.2 Hier wird definiert, wer als Geflüchteter gilt und welche staatlichen Schutzgarantien Geflüchteten zu gewähren sind. Zudem werden Hilfsmaßnahmen und die Rechte der Geflüchteten festgelegt. Bis heute haben 149 Staaten die GFK ratifiziert (UNHCR 2020).

      Als zentrale Institution der internationalen Flüchtlingsvereinbarung wurde, ebenfalls im Jahr 1951, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen gegründet, das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (engl. United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR). Der UNHCR ist in erster Linie für die Rechte der Geflüchteten und die Einhaltung der Genfer Konvention verantwortlich und soll weltweit in Krisengebieten vor Ort Hilfe leisten, wie das Organisieren von Camps für Geflüchtete und die Bereitstellung von Nahrung und Medizin (Loescher 2009). Der UNHCR ist von einer kleinen Behörde mit nur einem Kommissar (Gerrit Jan van Heuven Goedhart) und einem Sekretär im Jahr 1951 zu einer großen Organisation mit einer Belegschaft von heute über 17.000 Mitarbeiter*innen und einem jährlichen Budget von rund 8,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 angewachsen (UNHCR 2020). Dennoch leidet der UNHCR unter finanzieller Unterversorgung durch die UN-Mitgliedsstaaten und ist v.a. abhängig von den größten Beitragszahlern USA, EU, Deutschland, Schweden, Japan, Großbritannien, und Norwegen.

       Vorgeschichte zur GFK

      Bevor die GFK in Kraft gesetzt wurde, wurden Geflüchtete in bestehende Migrationskanäle integriert, wobei dies hauptsächlich nach ökonomischen Kriterien erfolgte. So wurden Geflüchtete, wie die russischen Geflüchteten, die ihr Land nach der Oktoberrevolution verlassen mussten, idealerweise in ein Land vermittelt, das Bedarf an Arbeitskräften hatte. Hierfür wurde 1922 der sog. Nansen-Pass eingeführt, mit dem ihnen die Weiterreise ermöglicht wurde. Für einige Jahre übernahm die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Vermittlung von Geflüchteten auf dem internationalen Arbeitsmarkt (Long 2013). So wurden Geflüchtete zu Arbeitsmigrant*innen gemacht. Die Kehrseite war, dass nicht universeller Schutz, sondern Kriterien wie berufliche Qualifizierung über ihre Aufnahme entschieden.

      Im Zuge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren brach dieses System aber weitgehend zusammen. Viele Länder schotteten sich auch vor den Geflüchteten des Naziregimes ab. Angesichts von Millionen Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg wurden zunächst neue Institutionen geschaffen. Ein Beispiel ist die International Refugee Organization (IRO), deren Aufgaben seit 1952 vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR übernommen werden. Viele Staaten rechneten Geflüchtete auf ihre selbstdefinierten Zuwanderungsquoten an. Ob ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Lagern möglich war, hing dabei erneut von ökonomischen Faktoren ab. Die Sowjetunion brandmarkte Geflüchtetenlager als Sklavenmärkte, in denen sich westliche Mächte billige Arbeitskräfte besorgten. Für Long (2013) erklären solche Vorwürfe bis heute die Trennung in Geflüchtete und Migrant*innen sowie die Schwierigkeiten der internationalen Gemeinschaft, Geflüchtete auch als potenzielle Arbeitskräfte wahrzunehmen.

      Neben den Pflichten, die Geflüchtete im Gastland erfüllen müssen, werden in der GFK vor allem die wichtigsten Rechte der Geflüchteten festgelegt, die bis heute die Grundpfeiler der internationalen Flucht- und Asylpolitik darstellen. So wird in Art. 31, Nr. l der GFK festgelegt, dass Geflüchtete, die unrechtmäßig in ein Land einreisen, um ihr Leben zu schützen, nicht bestraft werden dürfen. Auch ist es verboten, Personen, die in ein Land einreisen, um dieses um Asyl zu bitten, unter Zwang zurückzuweisen, wenn ihnen in dem Land, in das sie zurückgeschickt werden sollen, Verfolgung aufgrund ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischen Einstellung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht (Art. 33). Dieser Grundsatz der Nichtzurückweisung (Principle of non-refoulement) von 1951 beschränkte erstmals die nationalstaatliche Entscheidungsgewalt im Feld der Migration zugunsten der Menschenrechte (Martin 2018, S.278f.).

      In Art. 1A Abs. 2 wird definiert, wann eine Person als geflüchtet im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gilt. Demnach wird jede Person als Geflüchete*r anerkannt, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (UNHCR 1951, Art. 1 A, Nr.2).

      Wichtig