Название | Geschichte der Utopie |
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Автор произведения | Thomas Schölderle |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846348185 |
Der genaue geografische Ort der Insel bleibt ungeklärt. Man erfährt lediglich, dass Utopia jenseits der unwirtlichen Äquatorlinie und in der Nähe des neuen Kontinents liegt. Die eher begrenzten natürlichen Ressourcen sorgen bei den Utopiern für ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zur Natur, das ganz auf ihre Verwertbarkeit gerichtet ist: Es dokumentiert sich beispielsweise darin, dass ganze Wälder von Menschenhand abgeholzt und mit Blick auf Ertrag und Transportverhältnisse an anderer Stelle wieder aufgeforstet werden.57 Auch die gesamte Infrastruktur betont die Funktionalität. Die Städte liegen nie weiter als einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Die „Straßen sind zweckmäßig angelegt“, die Gehöfte auf dem Lande sind „planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt“ und das „Ackerland ist den Städten (…) zweckmäßig zugeteilt.“58 Die Hauptstadt Amaurotum heißt übersetzt so viel wie „Nebelstadt“ und ist damit eine deutliche Anspielung auf London. Doch mit den zeitgenössischen Städten hat Amaurotum nicht viel gemeinsam: Waren die historisch gewachsenen, frühneuzeitlichen Städte mit ihren verwinkelten Gassen und dicht an dicht gebauten Häusern stets ein Hort der Brandgefahr, des Schmutzes und der Epidemien, so verkörpern die utopischen Städte nachgerade das exakte Gegenteil: Die langen, ausladenden Straßen, die ausgebaute Trinkwasserversorgung und nicht zuletzt die geschilderten Glasfenster, anstelle der im 16. Jahrhundert üblichen Öl- und Wachstücher – all dies vermittelt nicht nur symbolisch ein Bild der Helligkeit und Fürsorge, sondern ist insbesondere Ausdruck eines ungebremsten Zutrauens in die Leistungsfähigkeit einer technisch-planerischen Vernunft. Es ist zudem ein deutliches Indiz für politische Modernität: Denn soziale Ordnung und politische Herrschaft gelten in Utopia ausschließlich als Menschenwerk; und wie sehr gerade die Insel Utopia ein menschliches „Kunstprodukt“ ist, das zeigt sich schon daran, dass sich ihre Existenz erst dem Abtragen gigantischer Landmassen verdankt.
Im Bereich von Bildung, Erziehung und Wissenschaft drückt sich die Betonung des Rationalen zunächst in der hohen Wertschätzung alles Geistigen aus. Unermüdlich, so erzählt Raphael, seien die Utopier auf geistigem Gebiet. Während Würfel- und Kartenspiele, Faulenzerei und Ausschweifungen verpönt oder gar unbekannt sind, erfreuen sich die morgendlichen Vorlesungen stets einer großen Zahl von Zuhörern. Das Volk verrichtet körperliche Arbeit zwar grundsätzlich mit „der nötigen Ausdauer“ 59, doch zielt letztlich alles in Utopia darauf ab, dass so viel Zeit wie möglich für die geistige Bildung verbleibt. Denn darin, so heißt es, liegt „nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.“ 60 Anders als später bei Francis Bacon, der die Wissenschaft vollständig dem Primat praktischer Verwertbarkeit unterwirft, trägt die Beschäftigung mit geistigen Dingen in Utopia Züge eines selbstzweckhaften Ideals und verlässt damit sichtlich die rein instrumentelle Perspektive. Gleichwohl bestehen die pädagogischen Institutionen nicht allein um ihrer selbst willen. Allen voran leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensprävention. „Wenn ihr nämlich zulaßt“, so hatte Raphael bereits im ersten Buch kritisiert, „daß die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anderes, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“ 61 In Utopia hat man solchen staatspolitischen Dummheiten längst Abhilfe verschafft. Raphaels Schilderung vermittelt vor allem das Bild, wonach die Menschen nicht von Natur zum Bösen bestimmt, sondern vielmehr durch schlechte Normen, schlechten Umgang und falsche Erziehung erst zu Kriminellen gemacht werden.
Einem ausgesprochen positiven Vernunftbegriff folgt auch die Ethik der Utopier. Anders als später in der modernen Naturrechtslehre stehen allerdings nicht menschliche Würde oder vorstaatliche Rechte im Mittelpunkt, sondern die Frage, worauf „das Glück des Menschen“ beruhe. Die Antwort qualifiziert das ethische Konzept als ein weitgehend eudämonistisches Modell, denn ausdrücklich ist es die „Lust“, in der die Utopier „das menschliche Glück überhaupt oder doch dessen entscheidendsten Grund sehen.“ 62 Freilich ist das Glücks- und Luststreben keine wahllose Suche nach immer neuer und möglichst häufiger Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Plakativ formuliert: Morus’ Utopier sind Eudämonisten, nicht Hedonisten. Die falschen Bedürfnisse sollen den wahren Freuden nicht im Wege stehen. Als ein solch falsches Bedürfnis gelten den Utopiern zum Beispiel die Gier, sich wegen persönlichen Reichtums mit „eitlen und sinnlosen Ehrenbezeigungen“ 63 bewundern zu lassen. Was die Mehrzahl der Menschen für gewöhnlich begehrt – Schmuck, Kleider, Edelsteine, Ehre, Adel – all das hat nach Ansicht der Utopier mit dem wahren Wert der Dinge nichts gemein. Die Orientierung an der utilitaristischen Rationalität übertragen die Utopier daher auch auf die Wertigkeit natürlicher Ressourcen. „Nur (…) die Torheit der Menschen (hat) der Seltenheit einen besonderen Wert beigemessen. Die Natur dagegen hat wie eine gütige Mutter gerade das Beste am zugänglichsten gemacht: die Luft, das Wasser, den Ackerboden“ 64. Zur Gänze unbegreiflich ist den Utopiern folglich, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“ 65. Für diese verquere Logik haben die Utopier kaum mehr als Spott und Verachtung übrig. Bezeichnenderweise machen sie aus ihren Goldbeständen Ketten für die Gefangenen und Nachtgeschirr.66
Das deutlichste Beispiel einer dezidiert utilitaristischen Ethik liefert schließlich das Institut der Euthanasie: Wenn dem menschlichen Leben keine Freude mehr abzugewinnen und die Nutzlosigkeit des Weiterexistierens für alle Beteiligten offenkundig geworden sei, dann soll der Betreffende ohne Furcht, aber voller Hoffnung aus dem Leben treten.67 Das ethische Fundament der Utopier ist folglich kein christlicher, sondern ein ausschließlich vernünftiger Moralkodex. Auffallend ist jedoch zugleich, dass die geschilderten Vernunftkonzeptionen in den Bereichen Ethik und Landesplanung nicht vorbehaltlos in ein widerspruchsfreies Bild zu fügen sind: Das Verhalten, mittels Vernunft die Natur zu kontrollieren und sie den eigenen Nützlichkeitsvorstellungen gemäß zu beherrschen, verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Auffassung, sich vollkommen in die natürliche Ordnung zu integrieren und die Stimme der Natur dabei als Weisung der Tugend und Vernunft gleichermaßen zu deuten.
Wie kaum ein anderer Lebensbereich ist schließlich die Wirtschafts- und Sozialordnung unter die Bedingung einer gemeinwohlorientierten Nutzenmaximierung gestellt. Dem weitgehenden Luxusverzicht steht ein Überfluss an notwendigen Gütern der Grundversorgung gegenüber. Es herrscht allgemeine Arbeitspflicht – für Männer wie Frauen. Essen gibt es nur gegen geleistete Arbeit und so kennen die Utopier weder Tagediebe noch Bettler, weder untätige Großgrundbesitzer noch faule Ordensbrüder. Eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden reicht aus, „um alles das bereitzustellen, was unentbehrlich oder nützlich“ ist.68 Der eklatante Gegensatz zu den von Raphael im ersten Buch geschilderten Zuständen in Europa ist kein Zufall; der Kontrast ist zweifellos gewollt. Das beständige Insistieren auf die allgemeine Nützlichkeit wird schließlich bis zur Absurdität gesteigert: Ist ein Utopier auf Reisen, so muss er spätestens am zweiten Tag bei einem Kollegen seinem Beruf nachgehen, will er etwas zu essen erhalten. Das ist eine Forderung, die sich in der Realität so wenig umsetzen lässt, dass sie beinahe unvernünftig anmutet. Auch besitzen die Utopier Brutmaschinen zum Zwecke der Hühnerzucht. Mögen dies auch hocheffiziente Mittel sein, so waren doch derartige Dinge für Morus’ Zeitgenossen noch so fremd, dass man sie als reine (nutzenmaximierende) Fantasiekonstruktionen auffassen musste. Darüber hinaus ziehen die Utopier Ochsen den Pferden vor, denn zum einen seien sie ausdauernder, zweitens weniger anfällig für Krankheiten, drittens sei ihr Unterhalt billiger, und viertens könne man sie am Ende noch verspeisen.69 Vergleichbare Ironiesignale und satirisches Spiel gibt es in der Utopia zuhauf. Sie schaffen immer wieder eine kritische, zur Reflexion auffordernde Distanz. Dieses Muster ist ferner eine häufige Quelle des Humors: