Название | Geschichte der Utopie |
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Автор произведения | Thomas Schölderle |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846348185 |
Nach Vollendung der Schrift in London schickte sie Morus an Erasmus. Im Dezember 1516 erschien sie erstmals in Löwen unter dem Titel: „Wahrhaft goldenes, nicht weniger nützliches als vergnügliches Büchlein über den besten Staat und die neue Insel Utopia.“ Obwohl das Werk sofort den ungeteilten Beifall aller herausragenden Humanisten seiner Zeit fand, ein Beifall, der bis heute nicht verstummt ist, spielt Morus in der Vorrede an Peter Gilles den eigenen Anteil an seinem Werk deutlich herunter. Mit dem originellen Einfall, er müsse nur wiedergeben, was ihm Raphael berichtet habe, beansprucht Morus nur noch die Rolle eines Herausgebers. Außerdem wendet er sich mit der Bitte an Gilles, er möge doch Raphael nochmals zu einigen Details befragen, vor allem: Wo denn die glückliche Insel Utopia liege?33 Damit aber gleicht der Widmungsbrief dem sprichwörtlichen „Wink mit dem Zaunpfahl“. Morus macht bereits zu Beginn der Lektüre den Leser ziemlich offensichtlich auf die spielerischen Aspekte des Werkes aufmerksam. Das Augenzwinkern fällt mitunter so deutlich aus, dass die Hinweise auf einen hintersinnigen und bisweilen spöttisch aufgelegten Verfasser kaum zu übersehen sind.
Die Utopia ist gleichwohl nicht nur Spiel. So entzündet sich die harsche Sozialkritik des ersten Buches an der steigenden Zahl von Dieben und Bettlern in England. Raphael wehrt sich dabei vehement gegen die Auffassung, die Diebe würden die drakonischsten Strafen bis hin zum Galgen verdienen: Das Todesurteil, so Raphael, sei weder gerecht, noch sei es im Interesse des Staates. Er analysiert das Phänomen ausgesprochen rational und führt es auf sozial-ökonomische Ursachen zurück. Verantwortlich für die ungerechte Situation sei in Wahrheit die Praxis der englischen Großgrundbesitzer: Durch das großflächige Einzäunen früheren Gemeindelandes (Allmende) und der Umwandlung von Acker- zu Weideland würden die Agrarflächen nun zunehmend für die Schafzucht und Textilproduktion okkupiert. Was aber bleibe den Unglücklichen dann anderes übrig, so fragt Raphael, als Haus und Hof zu Schleuderpreisen zu verkaufen und als Bettler oder Diebe in die Städte zu ziehen? Dort würden sie nun aber schon eines gestohlenen Sümmchens wegen aufgehängt.34 Nicht an das Gewissen der Großgrundbesitzer richtet sich Raphaels Appell, noch weniger an das Seelenheil der Armen; vielmehr werden die Missstände als tiefe Krise der Sozialverfassung diagnostiziert. Die Kritik ist ohne Spott vorgetragen und sie ist so analytisch-rational und auffallend deutlich zugleich, dass kaum ein Grund besteht, ihre grundsätzliche Ernsthaftigkeit anzuzweifeln.
Des Weiteren beinhaltet das erste Buch eine Kritik der außenpolitischen Praktiken der europäischen Fürsten. Zu diesem Zweck schildert Raphael eine hypothetische Szene, die er an den Hof des französischen Königs verlegt.35 Er lässt dort die Höflinge eine Fülle von macht- und eroberungstaktischen Vorschlägen unterbreiten, die in auffälliger Weise an Machiavellis Principe erinnern, etwa wie Bündnisse geschlossen und Verträge gebrochen, wie Gegner ruhig gestellt und neue Territorien erobert werden können.36 Die Art dieser Gespräche dient Raphael als schlagendes Argument gegen eine mögliche Beraterfunktion, weil er in den höfischen Kreisen entweder selbst korrumpiert oder rasch vertrieben würde. Die Streitfrage, ob der Philosoph in den aktiven Fürstendienst treten soll, ist das eigentliche Kernproblem des ersten Buches. Die weiteren Diskussionspunkte gehen aus dieser Erörterung hervor und während Raphael mit seiner Sozialkritik weitgehend Zustimmung findet, bleibt diese Kontroverse offen und endet argumentativ unentschieden. Morus und Gilles betonen wiederholt, dass es bei aller offensichtlichen Ungerechtigkeit dennoch nötig bleibe, durch das persönliche Engagement wenigstens einen Beitrag zur Besserung zu leisten.
Der Streit um den Vorzug von vita actica oder vita contemplativa war für die Humanisten der damaligen Zeit nichts Neues; die Entscheidung betraf ein unmittelbares Problem. Die Humanisten formten ein neues Bild, eine neue Stellung des Menschen, die sich deutlich von der hierarchischen Abstufung des Mittelalters unterschied. Sie bemühten sich um eine neue, wesensgemäße Bestimmung von Herrschaft, Bildung, Gesetz, Eigentum und Strafe; und sie versuchten nicht nur Gehör bei den Trägern der politischen Macht zu finden, sondern traten meist selbst in den Dienst der Fürsten, um sich dort aktiv für die Umsetzung ihrer Ideen einzusetzen. Auch Morus selbst sah sich vor diese Entscheidung gestellt, und er hat sich die Antwort keineswegs leicht gemacht. Sein Leben ist ein beständiges Schwanken zwischen den Polen der rein geistigen Existenz eines christlichen Gelehrten und der aktiv-politischen als Staatsmann. Die zentrale Stellung der Berater-Thematik nährt daher den Verdacht, dass Morus an dieser Stelle, argumentativ und kontrovers, einen Grundkonflikt seines eigenen Lebens ausgetragen hat. Überzogen freilich scheint es, darin sogar den tiefen psychologischen Konflikt einer gespaltenen Persönlichkeit zu erblicken, die zeitlebens bereut hat, nicht Mönch geworden zu sein.37 Das Dilemma beschäftigte schließlich nicht nur Morus, sondern den gesamten christlichen Humanismus der damaligen Zeit.
Das zweite Buch, rund zwei Drittel des Textes, ist dann ganz auf die Beschreibung Utopias konzentriert. Raphaels Schilderung folgt dabei keiner strengen oder konsequenten Gliederung. Dennoch ist die Darstellung inhaltlich erschöpfend und kennt im Wesentlichen fünf größere, aufeinander aufbauende Kapitel: Die Schilderung beginnt mit der geografischen Lage, der Landesstruktur und den Städten Utopias. Im Anschluss folgt die Beschreibung der sozioökonomischen Ordnung (Arbeit, Handel, Freizeit), ehe der Bericht zur utopischen Lebensphilosophie, der Ethik und dem Erziehungs- und Bildungssystem übergeht. Der vierte Abschnitt mit der Schilderung des Kriegswesens und den Hinweisen auf Verbrecher, Sklaven und Ehebrecher verdunkelt dann in Teilen das Bild. Die zentrale Bedeutung des Kapitels liegt in der Abweichung von der bis dahin weitgehend positiven Normgestalt des utopischen Gemeinwesens. Der fünfte und letzte Abschnitt konzentriert sich schließlich auf die Religion der Utopier, einschließlich der Behandlung der Todesthematik. Willi Erzgräber spricht aufgrund des Aufbaus daher von einer insgesamt „dramatischen“ Linienführung.38 Die Hinweise zum formalen Aufbau sollen hier vorerst genügen, weil sich an späterer Stelle noch eine genauere Analyse des utopischen Staatswesens anschließen wird.
In der Schlussszene wird die Dialogsituation wieder aufgenommen. In einem leidenschaftlichen Plädoyer für das utopische Gemeinwesen bricht Raphael mit seiner anfangs quasi-neutralen Berichterstattung. Der „Dialog-Morus“ reagiert ausweichend. Sein Verweis auf das anstehende Abendessen setzt dem Gespräch ein vorzeitiges Ende. Morus lobt sowohl die beschriebenen Einrichtungen wie die Rede des Raphael. Seine Bedenken, namentlich gegenüber der Kriegspolitik, der Religion und der kommunistischen Lebensweise der Utopier, formuliert Morus nicht mehr an die Adresse Raphaels, sondern richtet sie direkt an den Leser. Er schließt mit dem Satz: „Inzwischen kann ich zwar nicht allem zustimmen, was er gesagt hat, obschon er unstreitig sonst ein ebenso gebildeter wie welterfahrener Mann ist, jedoch gestehe ich gern, daß es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann.“ 39 Damit endet die Utopia. Der zentrale Aspekt einer endgültigen Bewertung des Gesagten wird vertagt. Ein solcher Schluss ist im Grunde noch gar keiner. Das Ende ist bewusst offen gelassen; und es ist nun am Leser, Raphaels Standpunkte im Einzelnen zu prüfen. Die Erzählstruktur führt zu einer argumentativen Pattsituation, die verhindert, dass sich der Leser vorbehaltlos auf die eine oder andere Seite schlagen kann. Die Aufgabe des Nachdenkens und der Bewertung wird dem Publikum übertragen und in dieser Weise ist der Aufruf zur eigenen Urteilsbildung ebenso unverkennbar wie die Parallele zu Platons Dialogen.
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der gesamten Schrift sind die dort auftretenden Personen. Die schillerndste Gestalt ist zweifellos der einzige, frei erfundene Charakter: Raphael Hythlodaeus. Ein erster Zugang erschließt sich über seinen Nachnamen. Dieser nämlich enthält – wie schon die Utopia-Wortschöpfung – zwei griechische Begriffe: „hýthlos“ heißt Posse oder Geschwätz; bei dem Wort „dáios“ ist allerdings die Betonung entscheidend: dāios (mit langem a)