Название | Geschichte der Utopie |
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Автор произведения | Thomas Schölderle |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783846348185 |
Die Möglichkeit eines allgemein akzeptierten Utopiebegriffs scheitert aber auch daran, dass das Wort selbst in der Forschung beständig normativ überlagert ist. Bestimmung und Bewertung gehen fast immer Hand in Hand. In der wissenschaftlichen Diskussion sind vor allem drei Utopiebegriffe richtungsweisend geworden. Grob unterscheiden lassen sich ein klassischer, ein sozialpsychologischer sowie ein totalitarismustheoretischer Utopiebegriff. Der Ausgangspunkt des klassischen Begriffs ist die im Jahr 1845 von Robert von Mohl geprägte Bezeichnung „Staatsroman“. Die gesamte Gattung definiert er als „Dichtungen (…) eines idealen Gesellschafts- oder Staatslebens“ 10. Zwar ist die Begriffsbildung gleich doppelt unglücklich, weil weder die epische Form des Romans noch die „Idealstaats“-Beschreibung wirklich konstitutiv für die Mehrzahl der Utopien ist. Doch steht die klassische Utopieforschung bis heute weitgehend in der Tradition des Mohlschen Ansatzes. Sie orientiert sich hauptsächlich am Prototyp von Morus’ Utopia und ist perspektivisch auf die prägenden (meist literarischen) Entwürfe in der Geschichte konzentriert. Demgegenüber liegt dem sozialpsychologischen Utopiebegriff ein deutlich erweitertes Verständnis zugrunde. Maßgeblich initiiert wurde es von Gustav Landauer (Die Revolution, 1907); seine wichtigsten Vertreter waren schließlich Karl Mannheim (Ideologie und Utopie, 1928) und Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, 1959). Später fand der Ansatz auch Fürsprecher im Soziologen Arnhelm Neusüss oder dem Bloch-Schüler Burghart Schmidt.11 Dabei rekurrieren die Autoren allesamt nicht mehr auf die Denktradition, sondern betrachten Utopie als eine Art Bewusstseinsform oder bloße Intention. Das hat zur Folge, dass – etwa bei Ernst Bloch – von Schaufensterauslagen bis zur Bibel, von Tagträumen bis zu Beethovens Neunter alles unter den Utopiebegriff subsumiert werden kann.12 Damit aber lässt sich ebenso schlecht operieren, wie mit dem dritten Typus: dem totalitarismustheoretischen Utopiebegriff. Sein prägendes Muster schuf der bekannte Wissenschaftsphilosoph Karl Popper13 und es erlebte vor allem im Kontext der Zeitenwende von 1989 / 90 eine beachtliche Renaissance.14 Utopien gelten demnach als geistige Vorwegnahme späterer totalitärer Herrschaftsformen. Der Reduktionismus des Ansatzes liegt gleichsam auf der Hand, denn schwerlich lässt sich allen historischen Utopieentwürfen ein totalitärer Gehalt, geschweige denn eine solche Funktion, und im Grunde nie: eine solche Intention nachsagen.
Betrachtet man nun die klassischen, vor allem frühneuzeitlichen Entwürfe selbst, so ist auffallend, dass sie zunächst fast allesamt ein fiktives Gemeinwesen beschreiben, das auf eine Insel projiziert ist. Eine Rahmenhandlung dient der literarischen Vermittlung. Zumeist wird die Inselwelt von einem Seefahrer bereist, der nach Europa zurückkehrt und dort die fremden Sitten und Einrichtungen beschreibt. Abgesondert von der Außenwelt, haben die utopischen Gesellschaften nur wenig Kontakt zu anderen Völkern. Nach innen dominiert häufig eine geschlossene Gesellschafts- oder Staatsordnung, während nach außen die Schutz- und Abwehrbereitschaft vor weniger harmonischen Gesellschaften im Vordergrund steht. Die Insellage ist aber keineswegs nur eine Sache bloßer Einkleidung, sondern zentral für eine Eigenheit, die man als Isolation der Utopie beschreiben kann. Möglich wird dadurch eine gleichsam mathematische Berechnung kausaler Beziehungen, etwa wie sich eine bestimmte Form der Erziehung auf das Rechtssystem auswirkt oder welche Konsequenzen aus den ökonomischen Grundlagen für die Notwendigkeit von Gerichten oder Gefängnissen folgen. Es muss daher kaum verwundern, wenn die utopischen Ordnungen – architektonisch wie sozial – gleichsam wie mit einem Zirkel auf dem Reißbrett konstruiert erscheinen. In der Konsequenz kennen die utopischen Gesellschaften auch so gut wie keinen sozialen Wandel. Sie sind statisch und konfliktfrei. Wo keine Kräfte von außen wirken, fehlen soziologische Prozesse und gesellschaftliche Dynamik. Damit ist man aber sogleich bei der Frage nach ihrem Geltungsanspruch angelangt. Utopien sind in ihrer klassischen Ausprägung fast allesamt rationale Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Die Funktion des Textes liegt in einem Anstoß zur Reflektion über die Grundlagen der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit. Mit dieser Funktion deckt sich über die längste Zeit der Utopiegeschichte auch die Intention der Utopisten. Sie beabsichtigen in den wenigsten Fällen einen Modellentwurf zur maßstabsgetreuen Totalrevision der Gesellschaft. Der unmittelbare Verwirklichungswille bleibt die seltene Ausnahme. Der Autor führt den Leser vielmehr in eine alternative Welt und verfolgt damit das Anliegen, diesen mit geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen. Die pädagogische, zum Teil sogar spielerische Dimension der Utopietradition ist häufig übersehen worden. Man hat die Entwürfe an den falschen Stellen ernst genommen und ihre Urheber leichtfertig zu irrationalen Fantasten oder zu totalitären Vordenkern des 20. Jahrhunderts erklärt.
Wenn selbst bei Morus’ Utopia, die zweifellos zu den besterforschtesten Texten der Ideengeschichte gehört, der Wechsel zwischen Ernst und Ironie immer wieder übersehen wurde, ja in manchen Fällen überhaupt nicht zu klären ist, dann muss nicht verwundern, dass auch viele weitere Entwürfe der Utopiegeschichte mit einem vorschnellen Fehlurteil belastet sind: Allzu gern wird der porträtierte Inhalt zur Idealstaatsvorstellung des jeweiligen Utopisten erklärt. Das führt im Einzelfall zu einer missverständlichen Deutung, im großen Kontext der Utopiegeschichte zu einem fehlgeleiteten Utopiebegriff.
Die nachstehende Darstellung gibt einen Überblick zur Geschichte der politischen Utopien. Dabei wird die Feststellung kaum verwundern, dass schon die Frage nach der „Geburtsstunde“ der Utopie höchst kontrovers beantwortet wird: Wo sie als spezifisch abendländisch-neuzeitliches Phänomen betrachtet wird, lässt man sie für gewöhnlich beim „modernen“ Mustertext von Morus beginnen.15 Für einen weiten Utopiebegriff hingegen, dem die Utopie als philosophisch-anthropologische Konstante gilt, markiert die Utopia keine besondere Zäsur. Die Lesart verzichtet auf die These von der originären Neuzeitlichkeit der Utopie und folglich findet sich das Phänomen über die gesamte Menschheitsentwicklung verstreut, mitunter selbst in so unterschiedlichen Ausdrucksformen wie dem antiken Mythos, der mittelalterlichen Eschatologie oder der modernen Architektur.16 Die Frage nach dem Beginn der Utopie steht somit nicht nur in engem Zusammenhang mit der ideengeschichtlichen Verortung von Morus’ Schrift, sondern impliziert auch eine Vorstellung dessen, was unter Utopie überhaupt verstanden wird. Wer die prägenden Merkmale von Morus’ Mustertext ernst nimmt, der kommt um die Feststellung allerdings kaum herum, dass sich die Utopie der Frühen Neuzeit – trotz mancher Anknüpfungs- und Berührungspunkte an bekanntes, antikes wie mittelalterliches Gedankengut – nicht als bloße Verlängerung oder Modifizierung bestehender Geistigkeit auffassen lässt; ihr ist etwas genuin Neues inhärent, das wohl auch die Autoren selbst so verstanden wissen wollten: Morus hat dies mit dem Begriff der „neuen Insel Utopia“ ebenso signalisiert, wie Bacon mit seiner „Neu-Atlantis“.
Wenngleich der vorliegende Überblick von der Überzeugung geleitet ist, dass die Utopie ein durchaus „modernes“ Profil besitzt, so ist es für das Vorgehen kaum ratsam, den Begriff von vornherein auf die politische Neuzeit zu begrenzen. Der Blick auf mögliche Utopien oder Vorläuferformen in Antike und Mittelalter wäre bereits per Definition verbaut. Von Morus’ Schrift ausgehend, soll die Perspektive deshalb sowohl rückwärts wie vorwärts gerichtet werden. Dem zentralen Stellenwert der Utopia trägt die Darstellung dadurch Rechnung, dass ihr Porträt dem chronologischen Überblick zunächst vorangestellt ist. Gleich zu Beginn soll damit ein analytischer Standard gesetzt werden. Anschließend werden in kurzen Einzelprofilen vor allem utopische Entwürfe und ihre Urheber porträtiert, aber auch politische Ansätze, Theorien und Denkströmungen, die gewisse Schnittmengen mit der klassischen Utopie aufweisen. Neben der historischen Perspektive verfolgt die Übersicht zugleich ein systematisches Anliegen. Das Vorgehen soll nicht nur erlauben, wesentliche Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern auch zentrale Strukturelemente, Intentionen und Wirkungsweisen der Utopien aufzuzeigen sowie Abgrenzungen und Binnendifferenzierungen zu ermöglichen.
Jede historische Übersicht, die mit Beispielen operiert, ist vor das gleiche Problem gestellt: Ihre Auswahl ist in gewisser Weise immer willkürlich. Im Falle der Utopiegeschichte kommt hinzu, dass das Verständnis von „Utopie“ in der Forschung derart umstritten ist, dass sich je nach zugrunde gelegtem Utopiebegriff im Folgenden völlig unterschiedliche, zum Teil sogar sich gegenseitig ausschließende Beispiele finden würden. So sind vor allem mit dem sozialpsychologischen wie dem totalitären Begriffsmuster