Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Название Geschichte der Utopie
Автор произведения Thomas Schölderle
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783846348185



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man Raphael, den Schwätzer und Possenerzähler, denn das Wort bedeutet so viel wie „erfahren“ oder „kundig“.40 Dass allein damit das Vorzeichen der gesamten Utopia-Schilderung wechselt, liegt auf der Hand. Doch nicht einmal das ist wirklich eindeutig: Selbst bei einer unzweideutigen Übersetzbarkeit könnte der Name im Sinne humanistischer Satire noch immer ironisch gemeint sein.

      Im Text wird Hythlodaeus zunächst vorgestellt als ein ehemaliger Reisebegleiter des Amerigo Vespucci. Morus hält ihn deshalb anfänglich für einen Seemann, doch Gilles entgegnet ihm: „Weit gefehlt! (…) Jedenfalls fährt er nicht zur See wie Palinurus, sondern wie Odysseus oder, besser gesagt, wie Platon.“ 41 Der Platon-Vergleich, die Seefahrt und die Weltentdeckung sind unverkennbar Hinweise und Metaphern für philosophische Wahrheitssuche. Der Verweis auf Platon bereitet zudem Raphaels Thema vor: die Frage nach dem „besten“ Staat. Konzipiert ist die Figur als deutliche Kontrastfolie zu den übrigen Personen der Erzählung. Im Gegensatz zu Morus und Gilles kennt Raphael weder private noch berufliche Pflichten. Auch sein gesamtes Vermögen hat er bereits zu Lebzeiten seinen nächsten Verwandten vererbt, um sich auf diese Weise von jeder sozialen Verantwortung freizukaufen.

      Darüber hinaus ist Raphael ein großer Vereinfacher. Ablesen lässt sich das an seinem Diktum, wonach alle Besitzenden unnütz und frevelhaft seien, Arme und Besitzlose dagegen prinzipiell bescheiden und gut. Mit der Abschaffung des Geldes, so Raphael, werde auch die Geldgier verschwinden und damit zugleich Betrug, Raub, Mord, Streit, Furcht und Sorgen.42 Hythlodaeus verkürzt nicht nur gern, bisweilen verfängt er sich sogar in groteske Widersprüche. So entwirft ausgerechnet er – die Losgelöstheit in Menschengestalt – das Bild eines Gemeinwesens, in dem das Kollektivinteresse über jede individuelle Selbstbestimmung triumphiert. Ferner besitzt Raphael eine besondere Vorliebe und Gabe, um von politischen Einrichtungen fremder Länder zu berichten. Auf der Insel Utopia gelten Diskussionen über Politik, außerhalb von Senat und Volksversammlungen, allerdings als Hochverrat.43 Raphael ist zudem ein Weitgereister; in Utopia aber muss man sich für jedes Verlassen des Wohnbezirks einen Erlaubnisschein holen und reist im Normalfall in der Gruppe. Außerdem besteht Raphael während seiner Ausführungen explizit darauf, nur von den „Einrichtungen zu berichten, nicht aber diese zu rechtfertigen.“ 44 Gegen Ende seiner Rede formuliert er jedoch ein derart flammendes Plädoyer für die Utopier, dass er seine angeblich neutrale Haltung damit völlig ad absurdum führt.45 Fast noch kurioser ist die Diskussion um die Todesstrafe: Im ersten Buch der Utopia begründet Hythlodaeus seine Ablehnung, selbst Diebe zum Tode zu verurteilen, mit so grundsätzlichen, christlich-humanistischen Argumenten, dass eine Revision seines Standpunkts nicht mehr möglich scheint: „Gott hat verboten zu töten, und wir töten so leicht wegen eines entwendeten Groschens (…). Nun hat uns Gott aber nicht nur die Verfügung über das fremde, sondern auch über das eigene Leben entzogen.“ 46 Nur kurz darauf lobt Raphael allerdings beim Volk der Polyleriten, und später dann auch bei den Utopiern selbst, die dort praktizierte Todesstrafe.47 Überdies kennen die Utopier sogar die staatlich erlaubte, ja geförderte Euthanasie.

      Die gesamte Utopia würde man indes kräftig missverstehen, wollte man Hythlodaeus nur als eine literarische Karikatur interpretieren. Trotz all der unübersehbaren Widersprüche, weisen ihn seine Argumentationen bisweilen als höchst kompetenten Beobachter und Kritiker aus. Seine Kenntnisse der englischen Verhältnisse um 1500 und die unterbreiteten Lösungsvorschläge sind zum Teil von solcher Ernsthaftigkeit und so hohem Realitätssinn, dass man in Raphael nicht einfach die Parodie eines selbstgerechten Menschentyps sehen darf. „Schafft diese verderblichen Seuchen aus der Welt!“, so fordert Hythlodaeus: „Schränkt diese Ankäufe der Reichen ein und die Möglichkeit, sie wie ein Monopol zu handhaben! Laßt nicht so viele vom Müßiggang leben! Stellt die Landwirtschaft wieder her! Belebt die Wollspinnerei! Somit hättet ihr ein ehrliches Gewerbe, in dem sich diese müßige Schar nützlich betätigen könnte: einmal die Leute, die die Not bisher zu Dieben machte, dann auch die, die jetzt als Landstreicher oder faulenzende Dienstleute herumlungern, beides zweifellos künftige Diebe.“ 48 Anflüge von Ironie sind dabei nicht erkennbar. Zudem hatte Raphael bereits im ersten Buch eine Theorie des guten Herrschers entwickelt, die sich vollkommen und nachweislich mit Morus’ persönlichen Ansichten deckt.49 Raphael mag phasenweise wie ein verbohrter und wirklichkeitsfremder Idealist erscheinen; bisweilen fungiert er jedoch unzweifelhaft als das Sprachrohr des Morus. In der Figur des Hythlodaeus liegt im Grunde der gesamte Reiz des Utopia-Projekts verborgen. Der gleiche Raphael, der sich in so viele Widersprüche verfängt, trägt auch die harsche Sozialkritik sowie alle in der Utopia entwickelten Reformperspektiven vor. Hieraus leitet sich seine zentrale Funktion für das gesamte Werk ab, weil der Leser jederzeit zur Vorsicht und zur Prüfung des Vorgetragenen aufgerufen bleibt.

      Eine ähnliche Stellung kommt auch der Morus-Figur der Erzählung zu. Diese formuliert über weite Strecken Positionen des Autors, etwa wenn Morus im Streit um die Fürstenberatung Vorbehalte gegenüber der weltfremden „Schulphilosophie“ des Hythlodaeus erhebt oder wenn er bezweifelt, dass die Abschaffung von Geld und Privateigentum zu öffentlichem Reichtum führt.50 Der fiktive Morus wendet sich gegen zentrale Einrichtungen des utopischen Staates und ist damit als Korrektiv zu Hythlodaeus’ Erzählung von nicht unwesentlicher Bedeutung. Trotzdem bleibt Vorsicht geboten. Die Dialogfigur ist beispielsweise nicht in der Lage, die sprechenden Namen der Personen und Orte zu deuten. Ferner wird in der Schlussszene zu Bedenken gegeben, dass durch die Einrichtung des Kollektiveigentums doch „aller Adel, alle Erhabenheit, aller Glanz, alle Würde, alles, was nach allgemeiner Ansicht den wahren Schmuck und die wahre Zierde eines Staatswesens ausmacht, vollständig ausgeschaltet“ werde.51 Wenn Morus seine Zweifel allerdings nicht mit der „eigenen“, sondern mit der „allgemeinen Ansicht“ begründet, dann mag die Satire durchaus erkennbar sein, vor allem, wenn man halbwegs mit Morus’ Haltung gegenüber der Prunksucht an den europäischen Fürstenhöfen vertraut ist. An dieser Stelle spricht nicht der Autor, er hat vielmehr seiner Dialogfigur die Maske der „öffentlichen Meinung“ aufgesetzt und diese wird ganz offensichtlich selbst das Opfer einer Täuschung. Man kann Morus hier ein ähnliches Vorgehen unterstellen, wie es die von ihm geschätzten römischen Satiriker Horaz und Juvenal praktizierten. Auch diese werden in den eigenen Werken bisweilen zu Reingefallenen und machten sich selbst zur Zielscheibe des Spotts.52

      Zusammengefasst heißt das: Keine der Figuren der Utopia ist eine eindeutige und geschlossene Gestalt. Im Laufe des Dialogs widersprechen sich die Figuren nicht nur gegenseitig, sondern mitunter sogar sich selbst. Auch trägt die formale Struktur dazu bei, dass keine Person eine argumentative Überlegenheit gewinnt. Bereits Hubertus Schulte Herbrüggen hat daher mit Recht darauf verwiesen, dass die Frage, welche der beiden Figuren die Ansicht des Verfassers repräsentiert, falsch gestellt ist. Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Ansicht spricht aus dem Zusammen- und Gegenspiel der beiden Erzähler?53 Die spielerische Komplexität der Utopia erschließt sich also keineswegs auf Anhieb. Was beim ersten Lesen für leicht verständlich, eindeutig und unmittelbar einsehbar erscheint, das beginnt seine Wirkung oft erst zu entfalten, wenn man die Einzelteile des Werkes in Beziehung setzt und als Leser in einen „infiniten Prozeß des Auslegens, des Kombinierens und Abwägens hineingezogen wird.“ 54 Dieses diskursive Anliegen kennt gleichwohl einen roten Faden, der im Folgenden näher verdeutlicht werden soll.

      Man kann die Utopia als ein höchst ambivalentes „Lob der Vernunft“ auffassen. In enger und wohl auch durchaus gewollter Analogie zum Lob der Torheit seines Freundes Erasmus55 ist das Werk in gewisser Weise sogar eine Art Komplementärschrift. Sie lobt aber nicht wie Erasmus’ „Torheit“ – mal ernst, mal ironisch – die menschlichen Affekte und Leidenschaften, sondern ihren Widerpart: die Vernunft. Nichts existiert in Utopia, das nicht ausdrücklich rational erklärt wird oder sich zumindest rational erklären ließe. Bei genauerer Betrachtung wird zudem offenbar, dass es sich um eine ganz bestimmte Qualität der Vernunft handelt. Nicht weniger häufig, wie eine Einrichtung oder Sitte als vernünftig gelobt wird, ist zu hören, sie sei nützlich. Und für vernünftig halten die Utopier vor allem, was den Gesamtnutzen des Gemeinwesens maximiert. Die Utopia erprobt die utilitaristische