"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt". Barbara Halstenberg

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Название "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"
Автор произведения Barbara Halstenberg
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955102685



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von der Kirche überhaupt nichts wissen. Aber mit einem Mal beteten sie mit, richtig laut! Daran erinnere ich mich.

      Wir waren ungefähr zehn Kinder in der Krypta. Manchmal spielten die Schwestern mit uns. Dann lenkten sie uns ab von der Angst, der Verzweiflung und der Passivität, die wir Kinder bei den Erwachsenen förmlich spüren konnten und die sich auf uns übertrug. Mutter bewachte und beruhigte uns unten in der Krypta, aber ich konnte ihr die Sorge und Anspannung ansehen. Es muss eine unendliche Enge dort unten gewesen sein. Ich bekomme jetzt noch Platzangst, wenn ich daran denke. Damals kam mir alles so groß vor. Die Luft war schlecht. Ab und zu wurden die beiden Türen hoch zum Kirchenraum geöffnet, um die klare Luft aus der Kirche reinzulassen. Erst dann konnten wir an dem durch die Kirchenfenster eindringenden Licht erkennen, ob es draußen Tag oder Nacht war. Aber dann sahen wir auch das Aufblitzen der Explosionen, und die Kampfgeräusche waren deutlich lauter zu hören. Das verstärkte unsere Angst. Rausgehen sollte keiner, niemand durfte die Luftschutzräume verlassen.

      Einmal nutzte ich die Lüftungspause und schlich die Treppen hoch zum Altar. Für mich Siebenjährigen war das ein heiliger Ort. Ich sehe den riesigen Altar noch heute vor mir. Er war aus Marmor und glitzerte golden – so schön und wunderbar. Ich kniete mich vor den Altar. Von draußen hörte ich Kampflärm und Detonationen, doch in diesem Augenblick fühlte ich keinerlei Angst. Ich war fest davon überzeugt: Hier bist du sicher. Hier kann dir nichts passieren. Vor dem Altar fand ich einen Frieden. (Er spricht mit brüchiger Stimme.) Das ist wirklich so! Ein paar Wochen vorher hatte ich dort meine Erstkommunion empfangen. Das war ungewöhnlich früh, aber die Schwestern hatten sich wahrscheinlich gedacht: Wer weiß, ob er seine Erstkommunion sonst überhaupt noch erleben kann?

      Ich glaubte fest daran, dass Gott in dem Tabernakel auf dem Hochaltar wohnen würde. Vor dem riesigen Altar kniend dachte ich: ›Mit sieben haste ja noch keine Sünde begangen, nichts angestellt, da kannste ja schon mal mit dem lieben Gott ein Gespräch führen, warum er das alles so macht.‹ Mit flüsternder Stimme bat ich ihn, den Krieg bitte, bitte ganz schnell zu beenden und uns alle, auch unseren Vater, gesund wieder nach Hause zu schicken. Danach dachte ich: ›So, nun haste es ihm aber mal gegeben, das muss er sich mal anhören, der liebe Gott, warum er sowas macht.‹

      Mutter bemerkte mein Fehlen und holte mich wieder zurück in den Keller. Und dann, ein paar Tage später, am 26. April passierte es.

      Durch einen unbeschreiblichen Lärm wache ich auf. Im Halbschlaf nehme ich wahr, dass mein Körper plötzlich eingeengt ist und ich mich nicht mehr bewegen kann. Ich kriege kaum Luft! Es schießt mir durch den Kopf: Jetzt ist dir das Gleiche passiert wie der Ilse und ihrem Opa! Zugleich bin ich mir sicher, dass mich meine Mutter vermissen und mich schnellstens rausholen wird. Jemand trampelt auf mir rum. Ich weiß gar nicht, was auf einmal los ist. Ich kriege kaum Luft! Und wieder kommt einer und läuft über mich hinweg. Ich höre Geräusche, das Knirschen von den Trümmern. Wieder nähert sich jemand. Und richtig, zack, wieder läuft einer über mich rüber …

      Es muss nach Mitternacht gewesen sein, als eine Fliegerbombe durch das Kirchendach flog und im Bereich des Altars explodierte. Der Altar stürzte in sich zusammen und schlug die ganze Decke über der Krypta ein. Alle, die unten saßen, wurden begraben.

      Ich weiß nicht, wer mich rausgezogen hat. Vielleicht die Schwestern, vielleicht Leute, die geholfen haben. Die Schwestern gruben mit ihren Händen in den Trümmern. Das habe ich in einem Jubiläumsband der Kirche gelesen, als ich sie vor zwei Jahren das erste Mal wieder besucht habe. Eine Schwester hat damals notiert, dass ich unter den Trümmern lag und die Leute auf mir rumtrampelten. Als ich das gelesen habe, war es mir wieder eingefallen. Es stimmte!

      Ich muss in einer Nische gelegen haben, darum bin ich nicht erstickt. Vielleicht war da ein großer Stein. Das weiß ich alles nicht mehr. Schon als Kind habe ich meistens in Bauchlage geschlafen. Das hat mir damals möglicherweise das Leben gerettet. Ich bin wohl unverletzt aus den Trümmern gezogen worden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich etwas gebrochen hatte oder blutete. Vielleicht war ich der Einzige, der unverletzt war. Das kann ich nicht mehr sagen.

      Es war stockdunkel. Wegen des Verdunkelungsgebots durfte auch während der Rettungsarbeiten kein Licht gemacht werden. Wer Licht machte, konnte schwer bestraft werden. Aber vielleicht wäre es mit Licht auch noch schlimmer geworden. Jedes Licht wäre durch das große Loch im Kirchendach und durch die Kirchenfenster nach draußen gedrungen und hätte möglicherweise weitere Angriffe folgen lassen. In dieser Dunkelheit konnten bloß eine Handvoll Leute ausgegraben werden. Einer davon war ich. Wie viele es wirklich waren, habe ich nie erfahren.

      Dann setzt meine Erinnerung aus. Ich erinnere mich erst wieder an das Morgengrauen. Man hatte mich in den unzerstörten öffentlichen Luftschutzkeller gebracht und dort zwischen zwei Ordensschwestern auf eine Holzbank gesetzt. Seit Stunden waren keine Schüsse mehr zu hören gewesen, deutsche Soldaten waren nicht mehr zu sehen. Einige Frauen aus dem Keller hatten die Feuerpause genutzt und aus einem unbewachten Proviantlager der Nazis Ölsardinen ergattert. Sie drückten mir eine davon in die Hand. Nun hatte ich etwas zu essen! Eine ganze Dose mit Ölsardinen für mich ganz allein! Wir hatten alle unsere knappen Reserven aufgebraucht – es herrschte Hunger. Noch heute weckt der Duft einer gerade geöffneten Dose Ölsardinen in mir Erinnerungen an diesen Tag. Obwohl ich sie eher selten esse, lagern stets einige Dosen davon in meinem Lebensmittelvorrat.

      Viele Leute hatten am Morgen die Kellerräume verlassen, waren auf den Hof gegangen oder unterstützten die Bergungsarbeiten. Plötzlich stürmten alle wieder in den Keller, mit dem Ruf: »Die Russen kommen!« Vier oder fünf fremdartig aussehende Soldaten in verschmutzten Uniformen mit Kalaschnikows in den Händen kamen die Kellertreppe runter. Zwei blieben am Kellereingang stehen, die anderen gingen durch die Räume und musterten jede einzelne Person eingehend. An den Kindern und Nonnen gingen sie wortlos vorbei. Nachdem alle Personen kontrolliert waren, teilte einer der Russen in gebrochenem Deutsch mit, dass der Krieg zu Ende sei und wir nun alle wieder in unsere Wohnungen zurückkehren könnten.

      Oben im Hof sah ich zu, wie im Tageslicht in den Trümmern weiter nach Überlebenden gesucht wurde. Soweit ich weiß, fanden sie noch ein oder zwei Verletzte. Ansonsten fanden sie nur Leichen oder Teile davon.

      Als Kind war ich nicht in der Lage, nach meiner Familie zu fragen. Ich hatte überlebt, aber ich sah diese Person nicht mehr und auch diese nicht mehr. Ja, dann waren die nicht mehr da. Meine Mutter war nicht mehr da, meine Geschwister waren nicht mehr da … (Die Stimme versagt ihm.) Die sind alle umgekommen.

      Ich erinnere mich, wie die Suchenden Leichenteile in Bettlaken und Tischdecken einwickelten. Oben machten sie einen Knoten in die Bündel, damit die keiner sehen musste. Es war nicht so wie heute: Man ruft die Feuerwehr, und die kommt gleich. Es gab nur noch Zivilisten, die dafür nicht ausgebildet waren. Sie legten die Leichen am Rande des Hofes auf die Erde, damit sie identifiziert werden konnten. Die Erwachsenen versuchten, mich von der Suche wegzuhalten, aber das klappte nicht. Wie sollten sie es auch machen? Alles war zerstört. Es konnte mich keiner die ganze Zeit an der Hand halten. Der Hof war ja mein Zuhause. Jedes Mal, wenn ich wieder in den Hof kam, lagen neue Leichen aufgereiht. Sie waren voller Dreck und Staub und mussten erst abgefegt werden, damit die Angehörigen sie erkennen konnten. Ich erinnere mich noch an die Gespräche im Hof.

      »Na, wen haben wir denn da gefunden?«

      »Na Frau sowieso.«

      »Ach Gott, die auch … und die Tochter auch noch …«

      Ich bekam schnell mit, dass meine Mutter und meine Geschwister tot waren. Die Mutter war nicht mehr da, die Geschwister waren nicht mehr da … Aber hier (er zeigt auf den Kopf) ist das nicht angekommen. Ich sah meine Mutter dann auf dem Hof liegen. Ich erkannte ihr Kleid, ein helles Kleid mit einem Muster von kleinen Karos in Grün- und Blautönen. Jemand, der da lag, hatte dieses Kleid an, also war das meine Mutter … Die Menschen hatten im Keller meistens ihre guten Kleider getragen, die sie retten wollten, das neueste Kleid oder den besten Anzug. Und im Koffer hatten sie nur das Allerwertvollste runtergetragen. Meine Mutter hatte für meine Erstkommunion über Bezugskarten das neue Kleid mit dem Karomuster bekommen. Daran erinnerte ich mich auf dem Hof sofort, als ich sie dort liegen sah. Von meinen Geschwistern sah ich nichts. Später erfuhr ich von den Nachbarskindern mehr. Kinder haben ja