Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
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Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
Ich wollte kein Buch über die Kriegskinder schreiben, in dem ich ihre Geschichten mit meinen Worten nacherzähle. Vielmehr kommen die Kriegskinder selbst zu Wort. Nur so ermöglichen die Erzählungen einen direkten persönlichen und emotionalen Zugang zu gelebter, lebendiger Geschichte.
Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählten ganz unterschiedlich. Einige durchlebten die Ereignisse ihrer Kindheit beim Erzählen erneut. Das waren bewegende Momente. Viele waren sehr emotional, manche blieben gefasst – einige waren reflektiert, andere erzählten sehr distanziert. In manchen Gesprächen war mir, als nähme das Ungesagte viel Raum ein. Als verberge sich darin das Unerklärte oder Unverarbeitete der eigenen Biografie.
Erinnerungen sind immer subjektiv und durch das weitere lange Leben gefärbt. Deswegen habe ich zur besseren Einordnung am Ende jedes Kapitels kurze Hintergrundinformationen mit geschichtlichen Fakten zusammengestellt. Meine Hoffnung ist es, dass die Fülle der gesammelten Erinnerungen sich zu einem Gesamtbild über das Vergangene zusammenfügt.
Die Themen kamen über die Menschen, die sich bei mir meldeten, zu mir. Das erklärt vielleicht, warum hier zu den Themen Verfolgung und Täterschaft vergleichsweise wenige Erzählungen versammelt sind. So fehlen bei den Verfolgten die Geschichten von Sinti- und Roma-Kindern, von Kindern der Zeugen Jehovas, von Kindern politisch verfolgter Eltern sowie von sogenannten Lebensborn-Kindern. Ebenso fehlen Geschichten von Besatzungskindern und Kindern von Zwangsarbeiterinnen. Auch konnte ich keine Kinder von Homosexuellen, den sogenannten Asozialen, »schwer erziehbare Kinder« und Kinder, die während des Krankenmordes in Heilanstalten gelandet sind, befragen.
Wenige Kinder von Nationalsozialisten haben sich in ihrem späteren Leben mit der Rolle ihrer Eltern im Regime intensiv auseinandergesetzt. Sicherlich gab es unter den Eltern der Kriegskinder noch viele, die großes Unrecht taten oder geschehen ließen. Aber die Kinder wussten es entweder nicht oder wollten es nicht wissen, haben sich später nicht getraut nachzufragen oder haben keine Antworten bekommen. Auch ich habe erst kurz nach dem Tod meines Großvaters erfahren, dass er mit achtzehn Jahren als Wehrmachtssoldat, während er mit seiner Panzerdivision in Weimar stationiert war, für vier Wochen die Außenanlage des KZs Buchenwald bewacht hat. Darüber hätte ich mit ihm reden wollen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Deswegen möchte ich die Leserinnen und Leser dazu ermutigen, in ihren Familien noch einmal genauer nachzufragen.
Kinder können nur Opfer sein. Wichtig ist, zu schauen, warum sie zu Opfern wurden: durch die Indoktrinierung und Manipulation des NS-Systems, dem viele der Eltern sicherlich auch ihre Stimme gegeben haben und in deren Unrecht sie vielfach verstrickt waren, und durch den Krieg, den das nationalsozialistische Regime begonnen hat. Auch für diese Hintergründe weiten die Geschichten den Blick.
Die Erzählungen der Kriegskinder können die deutsche Schuld in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust nicht relativieren. Wir Deutschen können uns unserer Verantwortung für unsere Geschichte nicht entziehen. Allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, mit denen ich sprach, war bewusst, dass es den Krieg nur deshalb gegeben hat, weil die Deutschen ihn angefangen haben. Die Bomber kamen nur, weil die Wehrmacht diese Länder zuvor angegriffen hatte. Die damaligen »Feinde« benahmen sich nur so, weil sich die Deutschen vorher so schändlich in den besetzten Gebieten verhalten hatten. Was die Erzählungen auch zeigen: Fast alle Kinder haben die Verbrechen der Nationalsozialisten mit ihren eigenen Augen gesehen. Und was Kinderaugen gesehen haben, das konnten die Erwachsenen erst recht sehen.
Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben heute Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Darin, dass eine rechte Partei im Bundestag sitzt und rechte Tendenzen überall in Europa erstarken, erkennen sie eine Gefahr für die Demokratie und den Frieden. Ein Anliegen war allen Befragten gemeinsam: Sie wollen nie wieder Krieg, Flucht und Vertreibung. »Es kann ja nur ein Antikriegsbuch werden«, hat ein Zeitzeuge während unseres Interviews gesagt. Die Erinnerungen der Kinder bezeugen das in jeder Geschichte. Kein Kind, egal wo auf der Welt, sollte mit diesen Erlebnissen aufwachsen müssen.
Es schaukelt noch immer. Die Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg sind bis heute zu spüren. Der Krieg und seine Schrecken lebten auch nach dem Krieg in vielen Kindern weiter, auch wenn sie nach außen hin schwiegen. Die meisten konnten mit niemandem über ihre teils traumatischen Erlebnisse sprechen. Im Nachkriegsdeutschland ging es ums Überleben, Nachvorneschauen und Verdrängen des Nationalsozialismus und seiner Folgen. So konnten die Kinder das Erlebte nicht verarbeiten und haben es teilweise über Erziehung und Verhalten an ihre eigenen Kinder weitergegeben.
Deswegen will dieses Buch die ältere Generation bestärken und sie zum Erzählen ermutigen. Und meine Generation möchte ich dazu anregen, noch einmal genau nachzufragen und wirklich zuzuhören, sodass ein Dialog jenseits der bisher erzählten Anekdoten stattfinden kann. Noch ist die Geschichte direkt durch die Erinnerungen der Kriegskinder erfahrbar. Doch die Zeit dafür ist knapp. Sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, anstatt das Schweigen weiterzuführen, ist eine große Chance.
Berlin, März 2021
Barbara Halstenberg
Bombenkrieg
»Ich höre Geräusche, das Knirschen der Trümmer über mir.«
Winfried L.
(Geboren 1938 in Berlin, Malermeister)
Ich erinnere mich an das erste Mal, wie ich als Kind mitbekam, was Krieg bedeutet. Ich hatte eine Spielkameradin. Meine kleine Freundin Ilse und ich waren unzertrennlich, wir waren den ganzen Tag zusammen. Sie wohnte mit ihrem Opa zwei Häuser weiter. Bei Luftalarm konnte es der Opa nicht ertragen, in den Keller zu gehen, weil er im Ersten Weltkrieg in einem Graben verschüttet gewesen war. Deswegen blieb er mit Ilse in der Wohnung. Wäre ich mit meiner Familie in der Wohnung geblieben, wäre uns kein Haar gekrümmt worden. Bei Ilse war das anders. Das Haus wurde getroffen. Der Opa und Ilse stürzten mit der ganzen Wohnung in den Keller. Dann war Ilse nicht mehr da. Einfach nicht mehr da.
In den letzten Kriegstagen wohnten wir quasi im Keller. Zu der Zeit war das nichts Außergewöhnliches. Es ging Millionen anderen auch so. Neben unserem Mietshaus lag ein öffentlicher Luftschutzkeller, der bei Alarm oft überfüllt war. Deswegen suchten wir Hausbewohner in der Krypta unter dem Altarraum der angrenzenden Kirche Schutz. Dort hatte jede Familie, auch wir, ihren eigenen, aber engen Platz sicher.
Es war Ende April 1945. Wegen der heftigen Straßenkämpfe hatten wir die Krypta seit Tagen nicht mehr verlassen. Tag und Nacht saßen wir dort unten mit etwa 70–80 Menschen in der Dunkelheit zusammen. Es war ein Halbdunkel. In meiner Erinnerung ist nur schwaches Kerzenlicht, das die Krypta etwas erhellte. Oft hörten wir in dichter Folge intensive Detonationsgeräusche. Wir spürten jede Bombe und jeden Granateinschlag. Schlugen sie in der Nähe ein, bebte der Boden unter den Füßen, es wackelte und vibrierte. Viele Erwachsene weinten dann leise oder stierten abwesend vor sich hin. Ich beobachtete sie. Bei heftigen Angriffen flehten einige von ihnen den Pfarrer und die Ordensschwestern an, die mit uns in der Krypta saßen: »Beten Sie doch mit uns! Singen Sie was mit uns!« Und dann beteten alle laut mit. Damals konnten die Menschen die Gebete noch auswendig. Heute ist das nicht mehr so, manche wissen gar nicht mehr, was ein Gebet ist … Zusammen sangen wir Marienlieder und auch christliche Lieder, die die Evangelischen mitsingen konnten. Während sie sangen, vergaßen die Menschen für ein paar Minuten, was um sie herum passierte. Sie fanden ihren Trost in den Gebeten und den Gesängen. In Erinnerung ist mir noch ein altes