Название | "Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt" |
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Автор произведения | Barbara Halstenberg |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955102685 |
Überraschenderweise stellte sich heraus, dass derartig umfassende Augenzeugensammlungen, die sich nicht auf schriftliche Quellen, sondern auf das Gespräch gründen, in Deutschland keine solche Tradition haben, wie sie sie eigentlich haben sollten. Wer hätte damals schon gedacht, dass mein Buch Hineingeworfen in seiner Art das einzige zum Ersten Weltkrieg war und zu einem Grundlagenwerk werden sollte.
Und es überraschte mich und hätte ganz bestimmt auch meine Gesprächspartner überrascht, dass ihre beispielsweise an einem sonntäglichen Kaffeetisch mir gegenüber geäußerten Erinnerungen später von Historikern in deren Untersuchungen als wissenschaftliche Quellen zitiert wurden.
Dabei gibt es kaum etwas Spannenderes als Oral History. Selbstverständlich fühlte ich mich angesprochen, als ich dreißig Jahre später als Verleger darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Barbara Halstenberg mit ihrem Buch Alles schaukelt einen ähnlichen Ansatz verfolgt hatte, um dem Erleben des Zweiten Weltkriegs, in diesem Fall durch Kinder und Jugendliche, nachzugehen.
Geschichte ist für die allermeisten Menschen ein komplett abgeschlossenes System. Sie wird geprägt von Geschichtszahlen aus vergangenen Epochen, von Listen mit Angaben zu verstorbenen, vertriebenen oder misshandelten Menschen. Wir wissen davon, es ist aber die Geschichte der anderen, nicht unsere. Dabei gibt es durchaus Menschen, die noch unter uns leben und ihre Erinnerungen im Alter jeden Tag und mehr denn je mit sich herumtragen. Für die Generation der Babyboomer sind diese Zeitzeugen die Eltern, für die Nachfolgegeneration die Großeltern. Viele von ihnen schweigen, und wenn sie einmal reden, fällt es uns schwer, in ihnen die jungen Menschen von einst zu erkennen.
Es ist unfair, verschiedene Zeitepochen auf ihre Bedeutsamkeit hin zu vergleichen. Es gibt aber historische Phasen, die so unfassbar sind, dass man an ihnen nicht vorbeikommt. Das sind Epochen, zu denen auch wir Jüngeren Fragen stellen. Im vergangenen Jahrhundert sind dies zweifelsfrei die beiden Weltkriege, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, ihre Vor- und ihre Nachgeschichte. Gerade mit dem Zweiten Weltkrieg werden so viele Episoden verbunden, dass sie uns Nachkommen am ehesten aus der Reserve locken und wir bereit sind, uns auf diese Themen einzulassen.
Barbara Halstenberg hat sich der Frage verschrieben, wie die jüngsten und jungen Menschen den Zweiten Weltkrieg durchlebt haben. Sie hat sich auf die Suche nach hundert Zeitzeugen gemacht, die von ihrer Kindheit erzählen konnten, die vom Nationalsozialismus sowie von Krieg, Flucht und Vertreibung geprägt war. Gemeinsam ist ihren Interviewpartnern, dass sie den Krieg auf deutschem Boden erlebten und im hohen Alter dazu bereit waren, von ihren teils traumatischen Erlebnissen zu berichten. Barbara Halstenberg hat diesen Menschen aufmerksam zugehört und schafft es mit den Geschichten in Alles schaukelt, ihre Leserinnen und Leser die Welt von damals durch Kinderaugen sehen zu lassen.
Herausgekommen ist eine ganz einzigartige Sammlung von Stimmen, die die Vielfalt menschlicher Erlebnisse in so einer außerordentlich dramatischen Phase widerspiegelt. Es sind Kinder, deren meist unbeschwerte Kindheit mit einem Mal durch den Krieg unterbrochen wurde. Sowohl Mädchen als auch Jungen, aus der Stadt oder vom Land. Junge Menschen, die von den Ereignissen niedergeworfen wurden, Zeugen waren von Grausamkeiten vor ihren Augen oder gar in ihren Familien, die aber, wie das in diesem Alter ist, schnell einen Weg fanden, diese Erlebnisse zu überstehen. Diese Vielfalt, von der Autorin um historische Fakten ergänzt, macht die Besonderheit dieses Buches aus.
Barbara Halstenbergs Arbeit macht den Leserinnen und Lesern klar, dass diese Generation wahrlich keine normale Kindheit und Jugend hatte. Diese Menschen wurden von dem, was sie erlebt haben, für ihr ganzes Leben gezeichnet. Das ist eine wichtige Erkenntnis für das Zusammenleben der Generationen.
Dem Anspruch der Autorin entspricht es, dass sie am Ende ihrer Arbeit Anregungen für diejenigen ihrer Leserinnen und Leser gibt, die sich nach der Lektüre ermutigt fühlen, sich ihrerseits auf den Weg zu machen, um Menschen Fragen zu ihren persönlichen Erinnerungen zu stellen. Mit diesem Werkzeug in der Hand kann verhindert werden, dass dieser so wichtige und gerade noch mögliche Dialog verpasst wird, wie es auch in meinem Fall mit den Interviews von fast Hundertjährigen beinahe der Fall gewesen wäre.
Mai 2021
Vorwort
»Es kann ja nur ein Antikriegsbuch werden.«
Mit den Erzählungen über die Vertreibung meiner Großmutter aus Schlesien bin ich als Kind aufgewachsen. Als junge Erwachsene glaubte ich, schon alles darüber zu wissen. Als 2015 der Syrienkrieg in den Medien überall präsent war und viele Geflüchtete Deutschland erreichten, wurde mir bewusst, dass in unserer Gesellschaft eine weitere große Gruppe von Menschen lebt, die Krieg erfahren haben und vom Krieg geprägt wurden. Das sind die Alten, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Jeden Tag laufen wir auf der Straße an ihnen vorbei, sitzen neben ihnen im Bus oder stehen hinter ihnen an der Kasse. Damals waren es Kinder, heute sind es die letzten Zeugen, die uns von ihrer Vergangenheit erzählen können – die auch unsere Vergangenheit ist.
Als Journalistin interessieren mich die alltäglichen Geschichten der Menschen. Und so fragte ich mich 2015, was andere Kinder aus der Generation meiner Großmutter erlebt haben mussten und wie es ihnen heute damit geht. Wie leben Kinder im Krieg, was denken sie, was empfinden sie? Wie erlebten sie das Jungvolk, die Judenverfolgung, die Väter im Krieg? Und wie denken sie heute über ihre Kindheit? Was tragen sie von damals noch in sich? Welchen Einfluss haben die Kriegserfahrungen bis heute? Ich begann, in meinem Umfeld zu recherchieren.
In meinem Alltag hatte ich, wie viele andere, wenig Kontakt zu alten Menschen. Ein alltäglicher Austausch zwischen den Generationen ist heute leider selten. Ich bat meine Großmutter um Kontakte aus ihrem Bekanntenkreis – es waren wenige. Ihre Idee, mit Aushängen in Apotheken nach Kriegskindern zu suchen, brachte für meine Recherche den Durchbruch. In manchen Wochen klingelte täglich mein Telefon. Ich spürte, dass diese Generation ein großes Bedürfnis hat zu reden. Und viele von denen, die sich bei mir meldeten, waren erstaunt, dass sich jemand für ihre Geschichten interessierte. So führte ich in den folgenden zwei Jahren rund einhundert Interviews mit Menschen, die im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg Kinder gewesen waren.
Viele Kinder kannten damals keine andere Realität als die des Krieges. Eine Zeitzeugin sagte: »Wie sollte der Krieg vorbeigehen, wir sind ja mittendrin aufgewachsen.« Die Kinder waren ausgebombt, unter Trümmern verschüttet, waren durch den Feuersturm gerannt, über Leichen gestiegen und an Erhängten vorbeigelaufen. Sie erlebten die Vergewaltigungen ihrer eigenen Mütter oder wurden selbst misshandelt. Sie sahen ihre Geschwister und Eltern sterben und wie Kinder und Erwachsene neben ihnen erschossen wurden. Sie kämpften als Kindersoldaten, haben als Jungmädel Soldaten mitten im Kampfgebiet verbunden, und kamen selbst in Gefangenschaft. Sie versorgten die halb verhungerten Flüchtlinge aus dem Osten, gruben Verschüttete aus, löschten Bombenfeuer und besorgten Essen. Viele wurden Zeugen der Judenverfolgung, sie sahen, wie Menschen abgeholt wurden, dass Bekannte plötzlich nicht mehr wiederkamen, sahen die Häftlinge auf ihren Todesmärschen, hörten Gespräche über Massenerschießungen, brachten versteckten Juden Essen oder überlebten als versteckte Juden den Krieg. Auch erlebten sie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern mit.
Sie erzählen von den fehlenden Vätern, dem langen, teils vergeblichen Warten auf deren Rückkehr, den Todesnachrichten und den Rückkehrern aus der Gefangenschaft, die sie nicht wiedererkannten. Sie erzählen vom lebensbedrohlichen Hunger und von der Kälte, von Läusen, Wanzen und Flöhen und von Krankheiten, für die es keine Medikamente gab. Sie erzählen von Flucht und Vertreibung – dem Verlust der Heimat und der schlechten Behandlung der Flüchtlinge. Viele haben unter der NS-Erziehung gelitten – in der Familie, bei der Hitlerjugend oder in der Schule –, viele waren aber auch bis zum Ende begeistert, schließlich waren sie so erzogen worden und von der Propaganda geblendet. Sie erzählen von der Einsamkeit während der Kinderlandverschickung und vom Spielen in den Trümmern, vom Sammeln der Bombensplitter und von scharfer Munition.
In den Wohnzimmern der Zeitzeuginnen