Der Traum vom Fremden. Michael Roes

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Название Der Traum vom Fremden
Автор произведения Michael Roes
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783863003272



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endgültig) der Schatten des Todesengels auf sein Antlitz. (Werfen Engel denn Schatten?) Sei’s drum, ihm gegenüber fühlt sich ein jeder schmutzig und schämt sich seiner brennenden Augen. Denn alles an ihm – selbst hier im Dreck – ist äußerst reinlich, seine Hände sind makellos wie die des Herrn, der den Kelch mit seinem eigenen Blute seinem unbarmherzigen Vater entgegenstreckt und dann den töricht dreinblickenden Aposteln reicht: Wie sollen diese einfältigen Fischer und Ziegenhirten auch verstehen, was jetzt gerade geschieht?

      Ich bestimme, daß wir hier, mitten auf dem Pfad und während der größten Tageshitze, Rast machen. M. Brémond folgt nur mürrisch meinen Anweisungen; sieht aber ein, daß jeder laut vorgebrachte Protest ihn nur als Unmensch erscheinen ließe. Djami und ich spannen ein Tuch über den gestürzten Mann Gottes, damit er im Schatten liege und sich nicht bewegen muß. Dann entzündet Djami ein Feuer, um Pater Etienne eine warme Mahlzeit zu kochen. Wenn der ausgezehrte Mönch nicht wieder ein wenig zu Kräften kommt, können wir unseren Weg nicht fortsetzen; zumindest nicht gemeinsam.

      Nur langsam kehrt das Leben in seine müden Augen zurück. Djami füttert ihn wie ein Kind. Alle (selbst Pater Maurice) sind verärgert über diese Unvernunft und die daraus resultierende Verzögerung. Wir werden eine Weile hier rasten müssen und mindestens einen halben Tag verlieren. Brémonds Leute sollen die Tiere von ihrer Last befreien und sie hinunter zum Fluß zu einer Wasserstelle führen. Dann bereiten wir Pater Etienne ein frühes Nachtlager: und die wechselnden Krankenwärter sorgen dafür, daß der Geschwächte in jedem wachen Augenblick ein wenig esse oder zumindest ausreichend trinke.

      Als die Wache wieder an mir ist und ich ihm etwas von meinem Dörrfleisch in den Mund zwinge, laufen ihm Tränen über das vom Sturz geschwollene Gesicht. Laßt mich einfach hier liegen, und Gottes Wille geschehe: jammert er. Gottes Wille? Die Hyänen werden Sie holen; werden über Sie herfallen, noch ehe Sie überhaupt tot sind!

      Gott wird mich schützen.

      Gott hat Sie ja nicht mal auf Ihrem verdammten Maultier halten können! Sind Sie nur deshalb in dieses gottverlassene Land gekommen, um anderen Leuten Scherereien zu bereiten? Sich geißeln und Buße tun hätten Sie doch auch in Frankreich können.

      Sie verstehen nicht.

      Das ist wahr. Reißen Sie sich zusammen, wenigstens so lange, wie wir gemeinsam unterwegs sind. Dann schaffen wir es in zwei Tagen nach Bubassa.

      Nach diesen durchaus ernstgemeinten Grobheiten gieße ich ein wenig Wasser aus dem Fellsack über mein Halstuch und wische dem zerknirschten Mönch das Elend und die Tränen aus dem hungerblassen Gesicht.

      Nun sitze ich in meinem Zelt – im Licht der Petroleumlampe –, vor mir das aufgeschlagene Feldtagebuch, die leere Seite, das Datum, der genaue Ort (unbekannt), und nichts vom heutigen Tag, das mir im Gedächtnis geblieben, scheint mir wert, aufgezeichnet zu werden: kein unvergessliches Ereignis, keine Heldentat, kein Abenteuer, nur dieser Unfall, nur ein ermüdeter Mönch, nur diese notgedrungene Unterbrechung. Wann will ich mit meinem Bericht beginnen? Ich beobachte: wie die Moskitos und andere Nachtschwärmer ihren Weg in den Glaszylinder finden und in der gelbblauen Flamme verglühen; ich beobachte es mit unleugbarer Genugtuung. Ach, die Wildnis in mir; das Barbarentum; und der fatale Mangel an überraschenden Gedanken Einsichten Verzauberungen Räuschen (das abendliche Opium zaubert mich schon lange nicht mehr fort).

      Bin ich denn immer noch oder schon wieder ein Zögling: ein Zögling des seiltänzerischen Daseins, ein Akrobat, der den Absturz liebt, ein Leben lang nichts anderes geübt hat? Die Wildnis, dachte ich wohl, werde mich retten (habe ich denn auf Java nichts gelernt?), und nun sitze ich inmitten dieser verdorbenen Natur, gefangen wie einer, dem man die Kleider fortgenommen hat und der sich nun nicht traut, nackt nach Hause zurückzukehren. Doch die Wildnis schert sich einen Dreck um meine Nacktheit! Was war es noch einmal, das Bardey mich zu erforschen bat? Immerhin ist es seine Reputation, die hier auf dem Spiel steht. Noch habe ich keines meiner Instrumente und Bücher ausgepackt.

      Ach, die Dichtkunst: was ist sie wert, wenn sie nicht in Wissenschaft mündet! einer universellen, praktischen Wissenschaft, die den Menschen zu überleben hilft; einer klaren, nüchternen Sprache, die nicht nur der Träumer versteht?

      Hier ist mein Versuchsfeld, mein Laboratorium, hier: wo die Menschheit begann; wo das Paradies und die Hölle so nah beieinander liegen. Bin ich nicht gut gerüstet mit meinen Büchern und Geräten: der Leitfaden der Metallverarbeitung, die Hydraulische Technik für Stadt und Land, das Taschenbuch des Zimmermanns und die Anleitung zur Errichtung von Sägewerken sind mir schon vor geraumer Zeit ins Adener Bureau geschickt und in den unzähligen zähen Mußestunden durchgearbeitet worden; und endlich hat der gute Delahaye mir auch den Reise-Theodolit, das Taschen-Aneroidbarometer, den Sextanten, das Jahrbuch des Bureau des Longitudes für 1882 und die Topographie und Geodäsie von Commandant Salneuve zugesandt; und das alles befindet sich mit dem photographischen Apparat, dem modernsten seiner Art, und den Gerätschaften für die naturkundlichen Präparationen wohlverstaut in den festen, mit Holzwolle ausgepolsterten und weitestgehend wasserdichten Kisten, die wir auf einem Packesel mit uns führen. Meine Studien über den Harar und die Gallas werden nicht nur die Geographische Gesellschaft überraschen, es wird auch ein Werk mit einer ganz neuen Sprache, einer ganz neuen Art der Poesie daraus entstehen!

      Und doch: wenn wir verstanden werden wollen, müssen wir uns wiederholen, die Wörter der anderen wiederholen, aus dem gemeinsamen Sprachschatz. Erfundene Wörter mögen originell sein, dienen aber nicht der Verständigung. Welchen anderen Sinn und Zweck hat Sprache als zu dienen? Ein verständliches Sprechen ist ein ständiges Zitieren.

      Nun sollte ich endlich den Anfang wagen: RAPPORT 1. Es gibt zwei Wege von Harar in den Ogaden: einen Richtung Osten durch War-Ali, auf dem drei Handelsstationen bis zur Grenze des Ogaden liegen. Diesen Weg hat unser Agent, M. Constantin Sotiro, bereits einigermaßen erkundet. Es ist der am wenigsten gefährliche und der wasserreichere.

       Der zweite Weg führt südöstlich von Harar über den Erer-Fluß, die Märkte in Babili und Wara-Heban bis in die Stammesgebiete der Hawïa.

      Hier sind die Erkenntnisse, die M. Sotiros und meine Expeditionen über den Ogaden bereits erbracht haben: Ogaden ist der Name einer Gruppe von Stämmen somalischer Herkunft und zugleich der Name der Region, die sie besiedeln. Im Westen grenzt der Ogaden an das Hirtenvolk der Gallas und entlang des Wabi-Flusses, der ihn vom großen Oromo-Stamm der Oroussis trennt, im Norden an die somalischen Stämme der Habr-Gerhadjis, im Osten an jene der Doulbohantes und der Midgertines und im Süden an die Hawïa.

       Der Name Hawïa scheint insbesondere jene Stämme zu bezeichnen, die sich aus einer Vermischung von Gallas und Somalis gebildet haben, von denen ein geringer Teil im Nordwesten Harars, ein größerer Teil südlich von Harar an der Straße in den Ogaden und schließlich der bedeutendste Teil im Südosten des Ogaden in Richtung des Sahel siedelt. Die drei Stammesglieder leben völlig unabhängig voneinander.

      Wie bitter ist es indes, daß die Geographische Gesellschaft sich mit keinem einzigen Centime an der Ausrüstung dieser Forschungsreise beteiligt. Allein die Früchte gedenken sie zu ernten. Sei’s drum: ich bin hier in Abessinien ja vor allem um meiner selbst willen.

      Manchmal träume ich: ich würde erwachen, und alle Gesetze und Sitten hätten sich geändert. Schon als Heranwachsender träumte ich von Entdeckungsreisen in Länder, über die noch keiner je berichtet hatte, Gebiete ohne Geschichte, ohne Glaubenskriege, ohne menschenfresserische Sitten. Ich glaubte an Zauber und Magie, an Rausch und Taumel – und hier bin ich nun, finde Flinten und Glasperlen statt der nackten kriegerischen Engel.

      Ich habe die Wüsten geliebt, ohne sie zu kennen; stattdessen habe ich mich durch kotige Straßen geschleppt und mich bereits in einem Dschungel gewähnt. Doch die Fliegen auf den Scheißhaufen von London oder Paris sind nicht dieselben, die hier im Ogaden ihre Eier in unseren Augenwinkeln ablegen.

      Aber selbst zu Hause, ja gerade zu Hause lauerte der Tod; mußte reisen, um ihm zu entkommen. Natürlich weiß ich, wußte schon immer, daß man ihm am Ende nicht entkommt. Wie dumm der Stolz darauf, keine Heimat zu besitzen, keine Freunde, keine Sprache! wie töricht die Verachtung für alle, die