Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

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Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



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Industrialisierung auf die Meinungsbildung der Mittelklasse – Die Wege des nichtjüdischen und jüdischen Bürgertums trennen sich

       4. Das Problem Preußen

       5. Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins – Alldeutschtum und intellektueller Antisemitismus

       VIERTER TEIL DIE KATASTROPHE

       1. Verstärkung der Verfallserscheinungen als Folge des ersten Weltkrieges

       2. Exkurs: Die Haltung der sozialistischen Parteien in der Zwischenkriegskrise

       3. Die Krise der Demokratie

       4. Ist eine geistesgeschichtliche Ableitung des Nationalsozialismus zulässig?

       5. Das Geheimnis des nationalsozialistischen Erfolges: Die Befreiung der Triebe – Die Funktion des jüdischen Antisymbols

       6. Der Militarismus als Mittel der Triebbefreiung

       7. Weitere Funktionen des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Propaganda

       8. Die Flucht in den Haß

       Schlußfolgerungen

       Anmerkungen

       Literaturverzeichnis

       Personenregister

       Kirsten Heinsohn

       Verteidiger des Liberalismus

       Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann: Flucht in den Hass

      Als Eva Reichmann 1981 für die ZDF-Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ interviewt wurde, sprach sie ausführlich über ihr zentrales Werk, das Buch „Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe“. Schon während der Kriegszeit hatten Eva Reichmann und ihr Mann Hans, beide arbeiteten zuvor im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), in ihrem Londoner Exil begonnen, sich wissenschaftlich mit den Ursachen für die Vertreibung und Verfolgung der Juden in Deutschland zu beschäftigen.

      Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Frage, ob die Emanzipation der Juden in Deutschland als ein gescheitertes Experiment anzusehen sei. Ihr Buch gibt darauf eine klare, nämlich ablehnende Antwort: Es handele sich gar nicht um eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Folgen der jüdischen Emanzipation, sondern es gehe ausschließlich um die Funktion der antisemitischen Propaganda für die nationalsozialistische Bewegung. Aus einem historisch-soziologischen Blickwinkel rekonstruierte Reichmann, dass es im 19. Jahrhundert noch eine „objektive“ und eine „subjektive Judenfrage“ in den europäischen Ländern gegeben habe. Objektiv waren vor der Gleichstellung soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Juden und NichtJuden vorhanden. Nach der Emanzipation habe jedoch in einigen europäischen Ländern die „objektive Frage“ keinen Anlass mehr für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben, so unter anderem in Deutschland oder auch in Großbritannien, in anderen dagegen schon, etwa in Polen oder Russland. In Deutschland sei im 20. Jahrhundert ausschließlich die „subjektive Judenfrage“ ausschlaggebend für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Diese „unechte Frage“ bzw. ihre politische Funktionalisierung bilden den zentralen Punkt in Eva Reichmanns Analyse. Sie bezeichnet mit diesem Begriff gesellschaftliche Diskussionen, in denen vor allem in Krisenzeiten individuelle „Unlustgefühle“ formuliert werden. Diese Gefühle entstehen nach Freud aus der zivilisatorischen Erziehung, die den Aggressionstrieb unterdrückt. Je heftiger Unlustgefühle auftreten, desto stärker fühlt sich das Individuum in seiner eigenen Existenz und Identität bedroht. Juden als Gruppe bildeten dabei unabhängig von konkreten Personen ein besonderes Angriffsobjekt, weil ihnen sowohl Ähnlichkeit als auch Andersartigkeit zugesprochen wurde, wobei Juden von Nicht-Juden als sicher in ihrer Identität wahrgenommen werden – auch wenn diese selbst sich nicht so sehen. Eva Reichmann bezieht sich in ihrer Analyse auf Freuds Überlegungen zum Unheimlichen, bleibt jedoch nicht auf der Ebene des Individuums stehen, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für „Unlustgefühle“ gegen Juden. Neben ökonomischen Ungleichheiten, die in der noch vorhandenen besonderen Berufsstruktur der jüdischen Minderheit liegen, der zunehmenden Erschütterung religiöser Wertsysteme (Säkularisierung) sowie einem aggressiven Nationalismus (insbesondere in Deutschland) benennt Reichmann auch die daraus entstandene „Schwächung des Gewissens“ als eine kollektive gesellschaftliche Erscheinung in Zeiten der Krise. Der Nationalsozialismus habe schließlich erfolgreich die Möglichkeiten der Demokratie nutzen können, um für eine antirationale, aggressive und antidemokratische Politik zu werben.

      Eva Reichmann benennt also zwei Verantwortliche für den Aufstieg des Nationalsozialismus: die politischen Führer der NS-Bewegung und die „Massen“, die lieber einer gefühlsorientierten Ideologie folgten, als sich vernunftgeleitet mit Krisenprozessen auseinanderzusetzen. Es ist offensichtlich, dass sich Eva Reichmann mit dem letzten Argument im Nachkriegsdeutschland nur wenige Freunde machte, denn sie ließ die einseitige These von der Verführung der Massen durch diabolische