Die lustlosen Touristen. Katixa Agirre

Читать онлайн.
Название Die lustlosen Touristen
Автор произведения Katixa Agirre
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783949558085



Скачать книгу

60

       Kapitel 61

       Kapitel 62

       Kapitel 63

       Kapitel 64

       Kapitel 65

       Kapitel 66

       Endnoten

       Danksagung

      01 Die Straße. Das Auto auf der Straße. Eine gerade Linie. Die gerade Linie lädt zum Reden ein, zum Stillsein, zum Durchdrehen. Die gerade, endlose Linie. Die gerade, dann plötzlich kurvige Linie. Direkt Richtung Norden. Eine Straße und ihr entlang die Gräben. Eine Straße und ihre Signale, gespensterhaft auftauchende Tramper, durchgezogene Linien, unterbrochene Linien, Tankstellen, Insekten, die – platsch! – gegen die Windschutzscheibe prallen und sterben. Blut, Schweiß und Tränen: weiter, immer weiter.

      Raststätte. Restaurant El Figón. Travel Club. Club La Bohème. Maut. Wegegeld.

      Go on, go on.

      Straße und Reise, Metapher aus Asphalt, Weg zur Selbsterkenntnis. Buße, Exil, vierzig Jahre Wanderung durch die Wüste. Ithaka. Ein Motiv mit satter Tradition in der Literaturgeschichte. Was dachtest du denn? So etwas macht frau gründlich. Unter Durchsicht aller vorangegangener Literatur. Der status quaestionis, weißt du doch.

      »Don Quijote von der Mancha«, als die Wege noch nicht mit Asphalt bedeckt waren. McCarthys »Die Straße« in einer postapokalyptischen Ära, wo asphaltierte Straßen nicht mehr von Nutzen sind. Oder sonst wann, in einer Zeit irgendwo dazwischen: »On the road«, ein (meiner bescheidenen Meinung nach überschätzter) Klassiker. Oder »Früchte des Zorns«, ein weiterer Klassiker. Nicht zu vergessen die kleine »Lolita«. Was soll ich zu Lolita sagen? Lo-li-ta.

      Die Nordamerikaner stechen heraus, wie sollte es auch anders sein – nicht ohne Grund haben sie ja die Überlandstraßen erfunden.

      Doch auch hier, auf den spärlichen Seiten der baskischen Literatur, wenn man nur genau hinschaut. Die Geschichte hat auch Basken hervorgebracht, die ein Faible für Straßen hatten. Zündkerzen. Benzingeruch. Nicht alle sind über die Weltmeere gesegelt, um Indianer abzuschlachten, das Evangelium nach Japan zu tragen, die fernen Philippinen zu erobern. Manche widmeten sich lieber den Straßen. Jean Etchepare, von Beruf Arzt, schrieb 1931 sein Buch »En automóvil«. Automobil, was für ein schönes Wort, warum nur ist es nicht mehr in Gebrauch! Wie viele der Wörter, die ich im Folgenden verwende, werden wohl ungebräuchlich geworden sein, bis du dann alles in den Händen hältst? Wie viele leere Bedeutungshülsen wirst du ertragen können?

      Aber es ist zu früh, um dich mit meinen lexikalischen Sorgen zu belasten. Gehen wir es langsam an, lass uns den ersten Gang einlegen, ein schweres Gefährt muss in Bewegung gesetzt werden.

      Von wem ist die Idee? Von dir. Lass uns sagen, die Idee ist von dir. Sie muss von dir sein, na klar. Aus heiterem Himmel sagst du zu mir:

      — Und warum nicht, Ulia?

      Und ich antworte dir:

      — Und wozu das jetzt, Gustavo?

      Du bist Gustavo, wenn du mir verwirrende Vorschläge machst. Gus, wenn ich dich darum bitte, mir unbedingt dunkle Schokolade aus dem Supermarkt mitzubringen. Gustavito, wenn ich mich über dich lustig machen will. Gusiluz, wenn du Fieber hast und dich wie ein Vögelchen zusammenkauerst. Der G-Punkt. Gustavo der Frosch. Gustav Mahler. Gustave Eiffel. Gustave Flaubert. Gustavo Adolfo Bécquer. Mein Sklave, mein Meister, mein Gebieter. Mein Reiseführer und mein Fahrer. Das vor allem.

      Nehmen wir mal an, du willst das neue Auto ausprobieren. Es einfahren, wie du sagst. Nehmen wir an, du willst also das neue Auto einfahren. Nehmen wir an, du brauchst einen ruhigen Urlaub, guten Wein, einfach nur dasitzen und aufs Meer schauen. Kleine Genüsse, langsame Genüsse. Nebenstraßen. Aber wir fahren immer nur über Nebenstraßen, einverstanden? Du hast ein hartes Jahr hinter dir. Hast praktisch den Koffer von deiner letzten Reise noch nicht ausgepackt: eine Woche in der Dominikanischen Republik, wo du bei einem Masterstudiengang für Internationale Prozessführung unterrichtet hast. Dein Leben ist nicht einfach. Das muss ich verstehen. In Ordnung. Nehmen wir an, du möchtest – und jetzt aber richtig! – mein Land kennenlernen, meine Wiege, den Ursprung von all dem. Es wird aber auch Zeit, nicht wahr? Du hast die hektischen Besuche für nur ein Wochenende satt, die Hochzeiten und die Begräbnisse. Du möchtest mein Land, meine Landschaft, meine Heimat in dich aufsaugen. Meinen Ruin, um es mal klar zu sagen. Aber das weißt du noch nicht. Du wirst es schon noch rausfinden. Zu gegebener Zeit. Das macht die Reise ja letzten Endes aus, Selbsterkenntnis mit allem Drum und Dran.

      Gustavo, ich habe mit dir die kretische Messara-Ebene bereist, aber noch nie die Hochebene von Álava. Ich bin mit dir in die Mojave-Wüste gefahren, in einem Mietwagen, dessen Klimaanlage plötzlich den Geist aufgegeben hat, aber in die Bárdenas Reales, die Halbwüste in Navarra, haben wir uns noch nie vorgewagt. Wir haben mit der Fähre die Meerenge von Gibraltar überquert und auf der Schifffahrt durch den Bosporus Brassen verspeist, aber die berühmten Flysch-Felsformationen von Zumaia haben wir nie vom Boot aus erkundet. Wir haben Eintritt gezahlt, um schlecht kostümierte Darsteller im Hexenmuseum von Salem zu sehen, doch den Hexen von Zugarramurdi und ihrem Hexensabbat haben wir bis jetzt keine Beachtung geschenkt.

      Es wird langsam Zeit, nicht wahr?

      Nehmen wir also an, ich sage Ja und füge mich deinen Wünschen, liebevoll. Denn hin und wieder bin ich so zu dir. Nehmen wir an, ich antworte dir mit wohldosierter Begeisterung:

      Na, das ist gar keine so schlechte Idee. Ich rufe mal meine Mutter an und erzähle ihr davon.

      Wirklich, so etwas hab ich mir nicht erwartet, aber …

      Und auf einmal, kaum wahrnehmbar für mich, ist der Plan bereits skizziert und zu groß geworden, es ist zu spät für einen Rückzieher. Es ist mir entglitten. Und wir brechen auf Richtung Patria, dorthin geht’s. Und da sind wir nun. In dem neuen Auto. Wir fahren es ein. Auf der Straße. Durchgezogene Linien und unterbrochene Linien. Und so weiter.

      Anfangs reden wir nicht viel, es ist noch früh und wir sind noch etwas verschlafen. Dann machst du Musik an. Eine eigens für diesen Anlass zusammengestellte Liste. Sanfte elektronische Musik: Tracey Thorns zweites Solo-Album, erklärst du mir, als würden mich solche Dinge interessieren. Nach einer Weile verlangst du, dass ich unbedingt mit dir reden, dich unterhalten soll. Du schläfst fast ein. Ich tue, was ich kann. Erzähle dir von meiner Mutter. Sage dir, dass wir im Grunde, mit kühlem Kopf betrachtet, ohne sie besser dran sein werden, auch wenn wir alle größte Enttäuschung vorgespielt haben, als sich herausstellte, dass unser Besuch genau in die Zeit ihres Urlaubs in Granada fallen würde.

      Du siehst glücklich aus im Auto, beim Fahren. In letzter Zeit hast du etwas Erstaunliches entdeckt: die Liebe zu Gegenständen.

      Auch wenn es mir leidtut, dir sagen zu müssen, dass du bei der Wahl deines Liebesobjekts nicht sonderlich originell gewesen bist.

      Fünf Jahre zu früh durchlebst du die typische Midlife-Crisis der Vierzigjährigen, und doch kommt diese ganze Leidenschaft für ein Automobil bei dir fünfzehn Jahre zu spät. Außerdem versuchst du, sie zu verbergen, diese unzeitgemäße Anhänglichkeit ist dir sicherlich peinlich. Aber ich bemerke sie. An der Art, wie du die Hände auf das Lenkrad legst. Stolz und selbstbewusst, ja. Doch da ist noch etwas anderes, eine robuste Zärtlichkeit, etwas, das ich »Liebe« nennen würde. Besagtes Wort macht mir keine Angst.

      Gegenstände,