Kirche der Armen?. Группа авторов

Читать онлайн.
Название Kirche der Armen?
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063429



Скачать книгу

und Pflegeheimen infiziert haben (1.127 von 3.800 Personen und 60 von 169 Clustern). Die 460.000 Pflegegeldbezieher/innen haben Expert/innen zufolge im Vergleich zu den unter 50jährigen ein 50- bis 80-fach erhöhtes Risiko zu versterben, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Krankenhausbett oder intensivmedizinische Versorgung brauchen, ist 100 bis 1.000-fach höher. Menschen aus dem unteren Fünftel der Gesellschaft haben ein zwei- bis dreifach höheres Risiko für chronische Krankheiten als Menschen aus dem oberen Fünftel. Das gilt für Krebs, Diabetes, koronare Herzkrankheit oder schweres Asthma – Erkrankungen, die besonders anfällig für eine Covid19-Infektion machen. Wer in beengten, prekären Verhältnissen wohnt und arbeitet, kann kaum Abstand halten – und so erleben wir Superspreading-Events in Flüchtlingsheimen, Obdachlosenunterkünften, Erntehelferquartieren, Fleischfabriken und Postverteilerzentren.“14

      In beiden Fällen waren und sind die Kirchen und Religionen herausgefordert, sich einzusetzen für die Menschen „am Rande“, für die VerliererInnen der jeweiligen Entwicklungen. Und es gab und gibt auch sehr viele Zeugnisse von institutionellen Hilfestellungen, aber auch von privaten Initiativen von Seiten der Kirchen und Religionsgemeinschaften.15

       3. Inhaltliche Logik des Buchs

      Das vorliegende Buch führt vor diesem Hintergrund von grundsätzlichen Überlegungen hin zu praxisbezogenen Analysen. In einem ersten Abschnitt wird eine Annäherung an zentrale Begriffe geboten – von Armut, über Caritas und Diakonie hin zu Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Freiheit, jeweils kurz definiert von unterschiedlichen AutorInnen. Dabei geht es nicht um eine endgültige Definition, sondern um eine plurale Annäherung an die Begriffe und Konzepte. Dieses Angebot unterschiedlicher Begriffsdefinitionen stellt eine Aufforderung dar, die eigenen Begrifflichkeiten zu hinterfragen und zu einem eigenen, kritisch fundierten Verständnis zu kommen.

      Die Diskussion zur Armut muss dabei kontextuell geführt werden. Der Zugang des Buches fokussiert daher auf Europa, mit einigen ausgewählten Herausforderungen (wie Migration oder die ökonomischen Aspekte). Während im zweiten Abschnitt des Buches der ehemalige Politiker Erhard Busek Osteuropa ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, benennt der Armutsforscher Martin Schenk die Situation der Armut in Westeuropa (mit Stand 2019). Die sozioökonomische Sicht wird einerseits von Karin Heitzmann dargelegt, andererseits vom Finanzfachmann Guenter Benischek. Regina Polak thematisiert Migration und Flucht als wichtige Faktoren der aktuellen Entwicklung.

      Zu diesen Kontexten gehört ebenso der Blick auf die Geschichte, denn auch sie stellt einen zentralen Horizont des heutigen Sprechens von der „armen Kirche“ dar. Der dritte Abschnitt des Buches bringt einige zentrale geschichtliche Schlaglichter. Schon in der Alten Kirche war das Thema der Armut zentral (Andreas Müller); in Mittelalter und Neuzeit spielten Armut und Armutsfürsorge ebenfalls eine wichtige Rolle (Bernhard Schneider). Aber auch der Begriff „Kirche der Armen“ hat selbst eine spezielle Geschichte, deren theologischen Aspekten Sebastian Pittl auf den Grund geht.

      Der vierte Abschnitt des Buchs entfaltet die theologischen Grundlagen der Rede von der Kirche der Armen. Die Alttestamentlerin Rita Perintfalvi hält ein bibeltheologisches und befreiungstheologisches Plädoyer für die Kirche der Armen. Die Bischöfe Manfred Scheuer (Linz) und Benno Elbs (Feldkirch) sowie der österreichische Caritasdirektor Michael Landau benennen aus lehramtlicher Sicht die Bedeutung einer Kirche, die „Zeugin der Freiheit, Mutmacherin und Horizonterweiterin“ ist. Herbert Haslinger führt in seinen beiden Beiträgen einerseits die Frage nach Gott als zentrale Frage einer Theologie der Diakonie aus, andererseits fragt er auch nach dem, was zumeist vergessen oder übersehen wird – nämlich nach den „Rückseiten der Diakonie“. Bei aller Bedeutung der Diakonie ist aber auch mit Doris Nauer zu fragen, warum das diakonische Engagement „typisch christlich“ ist und welche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede es zwischen der katholischen Caritas und der evangelischen Diakonie gibt.

      Der fünfte Abschnitt wendet den Blick auf andere Konfessionen und Religionen und versucht ansatzweise deren Perspektiven auf das Thema der Diakonie bzw. der Kirche der Armen darzulegen. Die jüdische Sicht auf Armut wird von Willy Weiß ausgeführt; die islamische Perspektive von Amena Shakir und Adam Shehata. Aus evangelischer Sicht legt die österreichische Direktorin der Diakonie, Maria Katharina Moser, dar, was „diakonisch Kirche sein“ bedeuten kann. Frank Sauer greift auf den Missionsbegriff zurück in der Ausfaltung der anglikanischen Perspektive.

      Im letzten Abschnitt werden Konkretionen bzw. „Landschaften des Diakonischen“ angeboten: angefangen von der Frage, wie eine diakonische Gemeindebildung geschehen kann (Johann Pock), über die Analyse von konkreten diakonischen Orten wie der „Solwodi“, der „Solidarität mit Frauen in Not“ (Anita Ofner und Katja Fraunbaum). Georg Steininger berichtet, was Armut aus der Sicht von Menschen mit Behinderung bedeutet. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit der Darstellung von Franz Helm SVD und Karin Weiler CS, wie OrdenschristInnen an der Seite der Armen wirken.

       4. Ergänzende Überlegungen zur orthodoxen Sicht

      Das vorliegende Buch versteht sich als Handbuch – als ein kleines Nachschlagewerk zu zentralen Aspekten im Umfeld der Diskussion um die „arme Kirche für die Armen“. Der Entstehungsprozess des Buches bedingte auch eine gewisse notwendige Auswahl von AutorInnen und Themen.

      Die Orthodoxen Kirchen stellen in Österreich eine wichtige Größe der Gesellschaft dar. Ein eigener Beitrag zur Orthodoxie fehlt im Buch. Beim Symposium 2016 legte Radu Preda, orthodoxer Sozialtheologe in Cluj (Rumänien), der zugleich als Staatssekretär in der Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen beschäftigt ist, zentrale Linien einer orthodoxen Theologie der Diakonie vor.16

      Da es in der Orthodoxie kein zentrales Lehramt (wie den Papst) gibt, versuche jede national verfasste orthodoxe Kirche auf ihre je eigene Form auf die Fragen der Zeit zu antworten. Damit sei die orthodoxe Kirche viel kontextgebundener. Für ihn liegt dabei ein Schwerpunkt auf der Gerechtigkeit, die jedoch nicht zu verabsolutieren sei. Theologisch ist Gerechtigkeit für ihn nur ein Attribut Gottes und müsse im Kontext der anderen Eigenschaften Gottes gesehen werden.

      In Rumänien gab es auch vor dem Kommunismus soziale Institutionen; diese waren aber zumeist in privater bzw. kirchlicher Trägerschaft. Im Zentrum war und ist stärker die Nachbarschaftshilfe, und die Gemeinde war wichtiger als übergeordnete Strukturen. Daher ist eine Verbandsarbeit für Rumänien auch ein Novum.

      In der orthodoxen Kirche (vor allem Rumäniens) gäbe es zwar eine Praxis der Diakonie, aber wenig theologische Reflexion dazu. Als Hauptbegriff sieht er dabei die „Philanthropie“ an, die „Menschenfreundlichkeit“. Aus dem Griechischen gäbe es auch noch die Rede von der „apostolischen Diakonie“. Dabei bestünde jedoch die Gefahr, sich mit der Diakonie nur nach außen zu legitimieren und eine Rechtfertigung zu haben für den Besitz. So werde beispielsweise das Netzwerk „philantropia“ zu einem Großteil über die EU finanziert.

      Ein Problem sieht Preda darin, dass zu wenig Reflexion auf die Ursachen der Armut (und deren Beseitigung) gelegt werde. Für ihn ist die (orthodoxe) Kirche in Rumänien daher gewissermaßen die „metaphysische Putzfrau des gescheiterten Sozialstaats“: Sie helfe dabei, den Müll zu beseitigen. Es werde aber nicht danach gefragt, warum so viel Müll entsteht.

      Ein Ziel wäre es, nicht mehr nur ein Projekt von Philantropie zu haben, sondern zu einem Prinzip von Philantropie zu kommen, bei welchem wirklich das Wohl der Menschen im Zentrum stünde. Dies müsste sich aber auch strukturell auswirken, da ansonsten keine Nachhaltigkeit erzielt werden könnte und die alten (kommunistischen) Strukturen weiterhin wirkmächtig wären.

      Preda wies auch auf die vorhandenen Sündenbockmechanismen hin, durch die von den tatsächlichen Problemen abgelenkt und eine Veränderung der sozialen Situationen von der Wurzel her erschwert werden würde.

      Für ihn ist zentral, dass die Armut in den osteuropäischen Ländern ein anderes Gesicht hat als im Westen. Aber auch innerhalb der osteuropäischen Länder sei die Armut nicht überall gleich. Es gäbe einige wenige, die extrem reich wären, bei gleichzeitiger großer Armut sehr vieler Menschen. Das Armutsgefälle