Kirche der Armen?. Группа авторов

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Название Kirche der Armen?
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063429



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      Papst Franziskus spricht jedoch in seiner programmatischen Antrittsenzyklika „Evangelii gaudium“ (EG) vom 24.11.2013 explizit von der „armen Kirche für die Armen“ (EG 198). Was aber kann darunter konkret verstanden werden bzw. welche Fragen werden damit aufgeworfen? Und woher kommt dieses Motiv?

       1. Das Motiv „Kirche der Armen“ – ein Kind des II. Vatikanums?

      In den vergangenen Jahren haben sich international unterschiedliche AutorInnen der Frage gewidmet, in welcher Form das Thema der „Armut“ auch für die Kirchen und Religionen von Bedeutung ist. Eine wichtige Stimme ist dabei Luigi Bettazzi.3 Er war während des Konzils 1963 zum Bischof geweiht worden – und er war (wie er selbst schreibt „zufällig“) auch einer jener 40 Bischöfe, die 1965 den sogenannten „Katakombenpakt“ unterschrieben hatten. Für ihn liegt ein wesentlicher Grund dafür, dass sich gerade die römischkatholische Kirche so schwer tut mit dem Motiv der Armut darin, dass hinter jeder Äußerung zur ungerechten Verteilung des Reichtums der „Einfluss der marxistischen Ideologie“ gewittert würde.4 Dem hält er entgegen, dass jemand, der „Aussagen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dämonisiert und pauschal als marxistisch aburteilt“, damit zugleich „die eigenen, einstmals ‚bürgerlich‘ genannten gesellschaftlichen Privilegien“5 verteidigt.

      Bettazzi benennt die wichtigsten biblischen Aussagen, die das Thema der Armut zentral in die christliche Botschaft einschreiben: In der Bergpredigt werden die „Armen im Geiste“ (Mt 5,3) seliggesprochen. Damit seien jene gemeint, die sich vor Gott als niedrig empfingen, wie z.B. Maria im Magnifikat (Lk 1,48). Für Lukas hingegen sind es die tatsächlich physisch Armen (Lk 6,20ff), denen er mit einem Wehe-Ruf die Reichen gegenüberstellt. Diese spannende Differenz zwischen dem matthäischen und dem lukanischen Armutsverständnis versucht Bettazzi zu übersteigen mit dem Begriff der „Kirche der Armen“.

      Bettazzi zeichnet die Entwicklung des Motivs der „Kirche der Armen“ auf und nach dem II. Vatikanischen Konzil nach. Er versteht darunter: „die Kirche muss sich selbst so verändern, dass sich die Armen in ihr ‚zu Hause‘ fühlen, dass sie nicht mehr Objekte der Nächstenliebe der Gläubigen sind, sondern selbst als Subjekte aktiv als Protagonisten das Leben der Kirche gestalten.“6 Bettazzi stellt jedoch zu Recht fest, dass die aktuelle Kirche eher eine „für“ die Armen als eine „der“ Armen ist.

      Einen anderen wichtigen Beitrag in der Ideengeschichte bietet Pierre Ganne, der 1973 vom „Armen und dem Propheten“ geschrieben hat.7 Er spricht davon, dass eine „Kirche der Armen“ noch keine arme Kirche ist. Nach ihm leidet die Beziehung „Kirche – Arme“ unter der gleichen Zweideutigkeit wie die Beziehung „Kirche – Welt“. Wenn man auf die Armen zugeht, ohne selbst arm zu sein, „ist [es] ein verdächtiges Unternehmen“8. Es bestehe immer die Gefahr der Paternalisierung oder Instrumentalisierung. Die Motivlage des Zugehens auf Arme müsse ständig kritisch hinterfragt werden. Denn auch Armut sei nicht ein eindeutiges Phänomen, sondern beruhe auf sehr unterschiedlichen Ursachen. Daher hält Ganne fest: „Die wahre Armut aber fordert … eine kritische Analyse der dauernden Ursachen des Elends“ 9.

      Wenn sich nun die Kirche (bzw. auch die Theologie als Wissenschaft) verstärkt der Armut bzw. den Armen zuwendet, bedarf es einer großen Achtsamkeit in der Form der Zugehensweise. Ganne meint beispielsweise zu Recht im Blick auf die Verkündigung und Mission der Kirche: „Wenn die Kirche anfängt, die ‚Armen‘ zu evangelisieren, ohne selber im Herzen arm zu sein, vermengt sie großmütige Verkündigung der Frohbotschaft mit verdächtigen Motiven.“10

      Für ihn besteht dabei eine doppelte Versuchung: den Glauben preiszugeben – oder Armen zu instrumentalisieren. Er sieht die einen, die bereit sind,

      „die Wahrheit Christi und ihren Glauben zugunsten der ‚Befreiung der Armen‘ preiszugeben, vergessend, daß der Kampf gegen das Elend und für die Gerechtigkeit nur eine Vorbedingung ist für die Fülle der Hoffnung und der Liebe, und daß die Gerechtigkeit ohne diesen wesenhaften Bezugspunkt verrotten muß und ebenso viele Verbrechen erzeugen kann, als solche im Namen der Freiheit begangen wurden. Die andern werden versucht sein, die Menschen und ihr Elend der Wahrheit ihres Glaubens zu opfern.“11

      Armut hat eine prophetische Funktion in einer jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Problematisch ist für Ganne jedoch, wenn der „Arme“ und der „Prophet“ den Kontakt zueinander verlieren:

      „Der Arme, der nicht mehr weiß, wer er ist, wird zwar den Propheten spielen können … Die falschen Propheten ihrerseits, von den Armen getrennt und deren Glauben in ein Haben verwandelnd, werden vorgeben, die Hüter der Wahrheit zu sein, aber nicht mehr wissen, wie die Prophetie der wahren Menschheitszukunft lautet. Das prophetische Licht wird bei ihnen zu einer Theologie entwürdigt, die letzten Endes das Elend mit der Erbsünde erklärt. Diese Theologie wird schließlich den christlichen Glauben entmenschlichen und ihn ins ‚Noman’sland‘ einer gewissen Transzendenz verbannen, angeblich, um seine Reinheit zu sichern.“12

      Was Ganne hier erkennt, ist die Gefahr einer „idealisierten“, realitätsenthobenen Theologie oder Kirche, die „entmenschlicht“ ist.

      „Ohne die Gegenwart der Armen aber, die das prophetische Licht ‚inkarnieren‘, verliert die Theologie ihr Schwergewicht, sie beginnt, die Geschichte zu überschweben und hängt sie an ein angeblich Ewiges, das sich bloß als ein Zeitloses entpuppt.“13

      Die beiden Ansätze von Bettazzi und Ganne verweisen auf die Notwendigkeit einer genauen Klärung dessen, was jeweils unter „Armut“ verstanden wird; aber auch auf die Kontigenz theologischer Konzepte, die immer wieder von konkreten gesellschaftlichen und politischen Umständen beeinflusst werden. Deutlich ist, dass das Motiv der „Kirche der Armen“ im Nachgang zum II. Vatikanischen Konzil (und nicht zuletzt angestoßen durch die Teilnehmer des Katakombenpakts) eine erste große Aufmerksamkeit in der Katholischen Kirche erhalten hat – und zugleich nicht zum zentralen Motiv katholischer Theologie geworden ist.

      Dies hat komplexe Gründe, die noch näher zu untersuchen wären. So birgt die Auseinandersetzung mit Armut und deren Ursachen immer auch macht- und gesellschaftskritisches Potential, das nicht nur die Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung stellt, sondern auch die Kirchen verpflichtet, selbstkritisch ihren Ort innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren. Weiters spiegelt sich darin wieder, dass Systematische Theologie und Sozialethik innerhalb der Theologie nicht im nötigen Ausmaß zusammenarbeiten. Da das Thema Armut eng mit der Frage nach der Gerechtigkeit verbunden ist, wirkt hier überdies das jahrhundertelange Vergessen und Ignorieren der jüdischen Herkunft des Christentums nach – steht doch die Bekämpfung von Armut durch das Etablieren einer gerechten Ordnung im Zentrum des Alten Testaments.

       2. Kontextualisierung des Armutsthemas

      Damit aber plädiert Ganne bereits vor 50 Jahren, im Nachgang zum Zweiten Vatikanum, für eine kontextualisierte Theologie. Wie sehr das Thema einer „Kirche der Armen“ nicht nur grundsätzlich, theologiegeschichtlich und ideengeschichtlich zu analysieren ist, sondern letztlich nur kontextuell behandelt werden kann, zeigen zwei Ereignisse, die die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches einrahmen. Den Ausgangspunkt nahm das Buch in der Zeit der großen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen im Jahr 2015, die im Hintergrund ja nicht nur die vielen Kriegs- und Verfolgungserfahrungen in Ländern wie Syrien oder Afghanistan hatten, sondern vor allem die Armutserfahrungen in vielen Herkunftsländern und auf den Fluchtwegen.

      Zum Erscheinungsdatum dieses Buches ist die Welt beinahe erstarrt aufgrund der Covid-19 Pandemie und den damit verbundenen Restriktionen in vielen Ländern der Erde. Dies führt aktuell viele Menschen in Arbeitslosigkeit und Existenznöte – und es kommt leicht zum Vergessen der vielen Armen in jenen Ländern, denen nicht die medizinischen oder technischen Ressourcen zur Verfügung stehen wie in Europa. Die Pandemie mit ihren immensen wirtschaftlichen Folgen trifft aber auch nachweislich in Europa die Ärmsten stärker und vertieft soziale Unterschiede. Die Corona-Krise hat nicht nur einfach soziale Folgen, sie ist eine soziale Krise.

      Die Diakonie-Leiterin Österreichs, Maria Katharina Moser,