Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Das ND mit meinem Artikel auf S. 2 bringt auf der Titelseite eine Kolumne von André Brie zum selben Thema und auf S. 10 einen längeren Artikel von Heinz Jung (»Der Moskauer Coup, der Gorbatschowismus und die Linke«). Brie stellt »das endgültige Ende« der Ära Gorbatschows fest, den er einen »tragischen Helden« nennt, welcher »der Geschichte genüge tat«, indem er »das unvermeidliche Ende des stalinistischen und nachstalinistischen Staatssozialismus einleitete«. Verteidigung: »Es waren nicht Gorbatschow und die Perestrojka, die zum Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus geführt haben, es war dessen undemokratischer Charakter, seine Unfähigkeit zur Moderne und die mindestens dreißigjährige Verspätung seiner radikalen Reformierung.« Das Neue Denken nötiger denn je, doch in der Realität missachtet; der Westen akzeptiert nur »den Übergang der Sowjetunion in ein westlichimperiales System«. Im Innern klafften Konzeption und reale Politik der Perestrojka immer weiter auseinander, und »die Konzeptionslosigkeit und das Zögern in der Wirtschaftspolitik hat mich bald bedrückt«.
Heinz Jung bereitet »die marxistische Linke« darauf vor, »dass sich der Gorbatschowismus von der bisher praktizierten sozialistischen Rhetorik trennen wird«. Den Staatsstreich schildert er verständnisvoll: »Dem Notstandskomitee kann nicht der Vorwurf gemacht werden, die Lage des Landes nicht realistisch und rücksichtslos erkannt und aufgedeckt zu haben. Der Bankrott der Perestrojka und die drohende Katastrophe sind die ungeschminkte Wahrheit«; der Coup richtete sich »wider den Zerfall der UdSSR und der sozialistischen Strukturen der Sowjetgesellschaft und gegen die Tatenlosigkeit des Staatspräsidenten«. »Eine passive und resignative Mehrheit ist dann kein Faktor der Politik, wenn eine dynamische und aktive Bewegungsminderheit die Straße und die öffentliche Meinung der Zentren beherrscht.« Die »Erfolgsmöglichkeiten für einen Coup dieser Art waren spätestens mit der Wahl Jelzins zum Präsidenten Russlands passé. Dies eröffnete die Phase der Doppelherrschaft der Unions- und Republikorgane«, was zum »Loyalitätskonflikt« in den Repressionsorganen führte. Entscheidend sei, dass es »der Gorbatschow-Richtung nicht gelungen war, eine breite und aktive Massenbewegung als Subjekt der Perestrojka zu schaffen«. Warum nicht, sagt er nicht.
Auch wenn die Perestrojka »nicht die Ursache« für die »Krisenkonstellation der sowjetischen Gesellschaft« war, habe sie als »inadäquate Antwort […] nur die Krise und Widersprüche aus der Latenz entbinden [können], ohne in der Lage zu sein, jene Bewegungsformen zu schaffen, in denen sich die Reform des Sozialismus, der Übergang von autoritären Staatssozialismus zu einem zivilgesellschaftlich und demokratisch geprägten Sozialismus hätte vollziehen können«. Das macht den »Gorbatschowismus« in Jungs Augen zur »Philosophie des Abgangs einer Weltmacht und der Kapitulation«. Das meint das Abgehen der sowjetischen Außenpolitik von der »Leninschen Imperialismustheorie als Grundlage« und die Leugnung der »bestimmenden Rolle der sozialökonomischen Antagonismen, also der Klassenfragen«, kurz, die Anerkennung der Priorität von Menschheitsfragen. Das ist alles nicht rundum falsch, aber halbrichtig, wo rücksichtslos die Fehlkonstruktion des Stalinismus analysiert werden müsste.
25. August 1991
Gorbatschow dementierte sich selbst. Er hat das Amt des Generalsekretärs verlassen, zur Auflösung des ZK aufgerufen. Offenbar hat sich die alte staatliche Führungsschicht, die zugleich parteiliche Führungsschicht war, auf diese Linie geeinigt.
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Gorbatschow – der »Zusammenhang seiner Gedanken« steht verlassen umher, wie eine abgeräumte Filmkulisse. Es ist, als hätten die Vorstellungen ihr Vorgestelltes verloren. Und doch muss es eigentlich umgekehrt gewesen sein. Die das bedrängte Gemeinwesen zu repräsentieren beanspruchten, sind gescheitert, blamiert. Es ist die Repräsentation, die sich davongemacht hat. Die Repräsentierten sitzen weltweit unvertreten in ihren Nöten, von der großen Not der Menschheit und ihres Lebensraums ganz zu schweigen. Das Perestrojka-Journal ist nun jedenfalls beendet.
Dass jetzt das nationalisierte Russland, bzw. seine führenden Repräsentanten, sich de facto die multinationale Sowjetunion aneignen, wird interessante Entwicklungen nach sich ziehen. Sie zu beobachten ist aber etwas anderes, es ist nicht mehr unmittelbar meine, ›unsere‹, Sache. Diese unsere Sache muss ich nun an anderen Substraten und Subjekten beobachten. Auch wende ich mich wieder verstreuten Mikroanalysen zur hochtechnologischen Produktions- und Lebensweise des transnationalen Kapitalismus zu. Sich mit Niedergehendem zu identifizieren, bei aller Analyse, Voraussicht und Kritik gefühlsmäßig immer wieder spontan ›konservativ‹ im Wortsinn und schier unbelehrbar zu sein – dieser Dauerdruck der letzten Jahre wird nun hoffentlich weichen.
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Die FAZ berichtet von einer Studie der Deutschen Bank über die Sowjetunion: der Bericht schwelgt zunächst in Zahlen über Ausdehnung (60 mal so groß wie Deutschland, allein Russland zweimal so groß wie die USA), um sich dann vor allem den Naturressourcen zuzuwenden. Ein Rohstoffradar von oben. Dieser Blick sieht ein Fünftel der bekannten Goldvorkommen der Erde, 22 Prozent des Erdöls und 34 Prozent des Erdgases, 27 Prozent des Eisens usw. usf. Von den Republiken seien nur sechs so stark, dass sie den Anschluss an die wirtschaftlichen Standards des Westens finden könnten, heißt es euphemistisch, bedeutet im Klartext: dass es sich für den Westen lohnt, sie formell in den Weltmarkt (Westmarkt) zu integrieren und materiell zu subsumieren.
In der TAZ behandelt Klaus-Helge Donath Gorbatschow als Unverbesserlichen, der die sozialistischen Flausen nicht lassen kann. Er schwimmt mit in der momentanen Moskauer Strömung. Einzig Antje Vollmer äußert sich in der gestrigen TAZ im Sinne meiner These von der »Glorious Revolution«: »Die wirkliche Fehleinschätzung – auch des Michail Gorbatschow – in diesen Monaten war die, selbst nicht für möglich gehalten zu haben, wie erfolgreich er schon in der Schwerstarbeit der Aufspaltung der Partei und der Zerrüttung der Reaktion gewesen war. […] Doch den Apparat vorzeitig für besiegt zu halten, wäre grob fahrlässige Scharlatanerie gewesen.« Sie begreift es als »unbestreitbar, dass dieser Putsch in der ersten Etappe der Perestrojka todsicher gesiegt hätte und dass nur das hautdichte Dranbleiben Gorbatschows an diesem Parteiapparat die […] Zerrüttung der gewaltigsten Bürokratie-Maschine bewirkt hat, die die Welt bisher kannte«. G ermöglichte die »gewaltfreie Entmachtung dieses Apparates«. Gleichwohl spricht Antje von »Revolution«.
Ansonsten verstärkt die TAZ (Reinhard Mohr) des Neokonservativen Lepenies genüssliche These vom »Desaster der interpretierenden Klasse«. Residuum des Klassenbegriffs. Zum Erbrechen.
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Einen in der TAZ abgedruckten Vortrag von Wladimir Malachow lesend, wo es um den Simulationismus in Russland geht, fällt mir die momentane jelzinsche Modifikation des russischen Nationalismus auf: er trennt sich vom herkömmlichen durch Anerkennung der Selbständigkeit der andern Republiken. Seine Gegner, die Protagonisten des gescheiterten Staatsstreichs, wären demnach eher im Muster des traditionellen Nationalismus geblieben. »So wie man einerseits ›russisch‹ durch ›sowjetisch‹ ersetzte, wurde andererseits ›sowjetisch‹ durch ›russisch‹ abgelöst.« So durch Stalin oder Jesenin, der kurz und bündig »Rusj« sagte und die multinationale Sowjetunion meinte. Jedenfalls herrscht auf dieser »nationalen« Verschiebungsachse zur Zeit Hochbetrieb, Coup und Gegencoup verkehren im selben Medium.
Malachows Hauptthese: in Russland das Individuum bis heute nicht wirklich anerkannt, daher bleiben alle Institutionen in Wirtschaft, Politik und Recht, die es voraussetzen würden, Simulation. Er zeichnet ein dualistisches Metapherngerüst, das dem nationalistischen Diskurs seine Einheit gibt: organisch/mechanisch, warmes Herz/kalter Intellekt, ungeteilte Gemeinschaft/Individuum; daran schließen Vitalität/Leblosigkeit, Fülle/Leere, Innerlichkeit/Äußerlichkeit, Tiefe/Oberflächlichkeit, Blüte/ Fäulnis. Merkwürdig, hier der Fäulnismetapher wiederzubegegnen. Der »faulende Westen« sei ein russisch-patriotischer Topos seit 150 Jahren.
25. August 1991 (2)
Marschall Achromejew hat sich heute Nacht erhängt.
Treffende Beschreibungen der Krisenlage