Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Название Jahrhundertwende
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548625



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noch kleiner geworden, auf einen Kinderkörper zusammengeschrumpft. Verteidigt Gorbatschow. Man musste runter von der Gewalt, daher nun Zerfall und Auflösung.

      Die Tagung beginnt überraschend unergiebig. Hatte vom altkommunistischen Milieu mehr erwartet. Flüchte in der Mittagspause zu den Götzes, vor allem der Kinder wegen.

      Heinz Jung erzählt mir sein Leben und bringt mir den alten Spruch bei: »Professoren und Doktoren – Proletariat, Du bist verloren!« Er kriegte ihn dereinst von seinem alten kommunistischen Onkel zu hören, der ihm eurokommunistische Tendenzen verübelte.

      25. Februar 1991

      Eine ebenso intelligente wie gut vorbereitete Radio-Journalistin (Walz) interviewte mich für den Bayrischen Rundfunk über die Gramsci-Ausgabe.

      26. Februar 1991

      Nach fünfstündiger Autofahrt Lesung in Bremen (aus dem Perestrojka-Journal). War müde, fand keine Form, beim Diskutieren kein Ende. Das Publikum (MASCH) freundlich, wollte aber über den Krieg reden. Ich meine zu merken, dass sie unter der Maske radikaler Kritik unsere Niederlage verinnerlichen und sage, sie hätten die Dinge früher zu harmlos gesehen und jetzt zu negativ. Der Moment, da ich aus dem Journal vorlesen konnte, scheint vorbei.

      1. März 1991, Fern (Lungau)

      Die Shakespeare-Sonette präsentieren sich überraschend: Reklame fürs Heiraten und Kinderzeugen. Eine recht manierierte Metaphernkompetenz führt sich vor, möglicherweise ironisch-doppelbödig. Dass der Adressat ein Jüngling ist, dessen Schönheit vom älteren Dichter besungen wird, erinnert an die antike Päderastie; in der Schwebe gehalten wird (zumindest in den ersten neun Sonetten), ob diese Erinnerung zulässig ist. Manifest dient die »Schönheit« als Vehikel, das die Zeit unaufhaltsam in Bewegung setzt, indem sie dieselbe zum Vergänglichen schlechthin macht, dem indes ein Weg zur Dauer offensteht in Gestalt des Erben (heir).

      Die Ähnlichkeiten (resemblances), in die das Problem des rechten und rechtzeitigen Nützens der Schönheit eingewoben ist, sind aberwitzig: Zeuger, Sohn und »glückliche Mutter« harmonieren zusammen wie wohlgestimmte Saiten im Akkord. Wenn die starke Jugend (strong youth) der Sommer ist, so der Sohn, in dem sie wieder auflebt, das im Sommer aus Blüte und Frucht hergestellte »Destillat«, das im Alters-Winter in Glaswänden (der Schnapsflasche) lebt, während draußen der Tod herrscht.

      *

      Im Golf »Feuerpause«; das Wort »Pause« droht mit Wiederaufnahme im Falle verweigerter Fügsamkeit. Der Bodenkrieg soll eine Art Spaziergang gewesen sein. »Es war wie Truthahnschießen« (vom Flugzeug aus), beschrieben US-Soldaten ihren Feldzug. Nur 79 US-Soldaten sollen gefallen sein, auf irakischer Seite dagegen »bis zu 200 000«, freut sich die FAZ. Schon wieder Sektlaune. Nur ein Tropfen Wermut: Die BRD hat gewissermaßen verloren, weil sie es an Kriegsbegeisterung missen ließ. In der FAZ-Leitglosse verhöhnt Fack die »ablassheischende Nachtwächterrolle« der BRD: dass sie keine Soldaten geschickt, sondern sich freigekauft hat (»Ablass«). Der Grund für diesen Ärger ganz materialistisch: Die riesigen Summen für den Wiederaufbau Kuwaits werden nicht nach Regeln des Weltmarkts (Preis- und Qualitätskonkurrenz) vergeben, sondern feudal, als Lohn für Gefolgschaftstreue: Aufträge wie Lehen. Deutsches Kapital hofft jetzt, wenigstens durch die koreanische Hintertür Zugang zu diesen Profittöpfen zu erhalten. Südkorea hat Flugzeuge und Sanitäter für den Krieg gestellt, und in manchem koreanischen Kapital steckt ein deutsches. Den ersten »Auftrag« aber erhält die US-Armee, die sich dadurch in ein riesiges Lohnunternehmen verwandelt: sie darf die von ihr angerichteten Trümmer aufräumen. Neue Verhältnisse kündigen sich an: das Ölscheichtum, einer der größten Grundrentner der Welt, der sich längst in den westlichen Industrialismus eingekauft hat (z.B. bei Mercedes-Benz), zahlte zunächst mit über 50 Mrd USD die Aufrüstung des Irak, dann die Zerstörung dieser Ausrüstung durch die USA und nun den Wiederaufbau. Eine neue Dimension von angewandtem Militärkeynesianismus. Ein Grund für Konflikte in der OPEC (und mit dem Irak): Was Kuwait an niedrigen Ölpreisen verliert, gewinnt es an westlichen Kapitalprofiten.

      Irak. – Katastrophale militärische Niederlage. Die Elite-Panzertruppen zum Schluss eingekesselt und ausgeschaltet. Infrastrukturell das Land kaputt, ökonomisch völlig am Boden, angewiesen auf Gnadenerweise. – Die Chemiewaffen nicht eingesetzt. Warum nicht? Unfähig dazu oder aus Selbsterhaltung (Kriegsbegrenzung)? Die Raketen eher symbolisch. Das Kalkül einer Ausweitung des Krieges (auf möglichst viele islamische Länder, ausgelöst durch ein provoziertes Eingreifen Israels) ist nicht aufgegangen. Israel konnte von den USA herausgehalten werden.

      USA. – Warum stellten sie (und wann) den Krieg ein? Welche Rolle spielten dabei UNO, Sicherheitsrat, Sowjetunion? Gingen die USA so weit als irgend möglich, an die äußerste Grenze der Resolutionen des Weltsicherheitsrats?

      In der BRD fielen die Aktien wegen der Feuereinstellung: hinterm Rauchschleier des Krieges scheint die Weltrezession wieder hervorzutreten.

      Slowenien will eine eigne Währung einführen. Heißen soll sie zwischen donaumonarchischem Taler und amerikanischem Dollar: »Tolar«.

      2. März 1991

      Gina Thomas ist sich nicht zu schade, in der gestrigen FAZ mit einem imperialistischen Kiplingzitat, das im Munde eines britischen Offiziers vor dem Fronteinsatz im Irak bei der Truppe Wirkung gezeigt haben soll, fürs Bildungswesen zu werben. Dabei geht es irgendwie ums Töten zwecks dauernder Weltherrschaft (»als Mittel dauernder imperialer Überlegenheit«) und darum, ein richtiger Mann zu werden. Wie aus Theweleit. Und für so was will die Thomas klassische Bildung.

      Im Irak soll es zu Bewegungen gegen das Baath-Regime gekommen sein, in Basra »Anarchie« herrschen, nachdem die Führungsschicht sich fluchtartig davongemacht habe.

      Jugoslawien rutscht weiter in den Bürgerkrieg. Kroatien setzt »Sonderpolizei« gegen serbische Autonomisten ein. Gestern sechs Tote. Nun soll die Armee eingreifen.

      Im Januar in der Bundesrepublik 22 000 Wehrdienstverweigerer angesichts des Golfkrieges.

      *

      Gewimmel von Assoziationen: Phantasiegestalten, Sekundenfilme, ein anderes Reich der Schatten, mögliche Leben, ungelebte Möglichkeiten. Diesen Gestalten sich zuzuwenden, sie auszukosten, das heißt Ausruhen.

      3. März 1991

      Shakespeare-Sonette.Fair war einmal = kalós. Wirft ein überraschendes Licht auf die fairness und von dieser zurück ins alte Griechentum. The sonnetts: Liebesmanierismus mit eingeblendetem (manieristischem) Antimanierismus (130).

      XXII: Zauberhafte Teilhabe des Liebenden an der Jugend des Geliebten. Dieser Zeitzauber geht nur gleichgeschlechtlich. Er unterstellt jedoch (Unmöglichkeit am Grunde jedes Zaubers) Gegenliebe. Dann lebt eines jeden Herz in der Brust des andern. »How can I then be elder than thou art?« Er sagt nicht, dass dann für den jungen Geliebten das komplementäre Gegenteil gelten müsste: How can thou then be younger than I am?

      Synästhesien, hervorgehend aus den alten Analogien und den mittelalterlichen Ähnlichkeiten: To hear with eyes belongs to love’s fine wit.

      XXXV: Irgendein öffentlicher Sexskandal scheint geschehen. Sie dürfen sich nicht mehr sehen. Der Dichter-Liebhaber mit sich selbst im Clinch: for thy sensual fault I bring in sense. Seine Zerrissenheit artikuliert er als inneren Bürgerkrieg: such civil war is in my love and hate.

      *

      Joseph S. Nye jr. (Harvard): Transformation der amerikanischen Macht. Das gewandelte Umfeld in Gestalt der transnationalen Konzerne und der ökologischen Politiken kostet die Staaten ihre Autonomie. Dazu reiht er den »Terrorismus« (Deckwort).

      Terrorismus. – Vergleich mit der Piraterie des 16.–17. Jahrhunderts. Doppelte Übergangserscheinung von Freibeuterei in Handel und von beidem