Название | Jahrhundertwende |
---|---|
Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Was uns auseinanderwirft –
*
Bei Rozarij, wo man den besten frischen Fisch in Dubrovnik bekommt, wird am Nebentisch über den Round Table von Cavtat gesprochen. Ein Amerikaner sagt, er habe einen Brief von Paul Sweezy erhalten.
Im Unterschied zu FH, die für Teile der Frauenbewegung arbeitet und von ihnen getragen wird, keine soziale Bewegung, für die zu arbeiten. – Zu lehren wird mir immer suspekter.
*
Perestrojka. – Die Prawda soll fürchterlich niedergehen. Freund Frolow hat alle gegen sich, die »Konservativen« und die »Liberalen«; die ersten, weil er ihnen Gorbatschows Kurs aufzwingt, die zweiten, weil er keine Ahnung von Journalismus hat. Jetzt soll die Prawda autonom werden. Bin neugierig, wo das Stehaufmännchen wiederkehrt.
Le Monde vom Samstag behauptet, die Japaner seien verbittert, weil nur Deutschland jetzt seine Vergangenheit als besiegtes Land losgeworden sei.
Assad kriegt die pax syriana im Libanon als Gegenleistung für sein Bündnis mit den USA. Ägypten gewarnt durch die Ermordung des zweiten Mannes im Staat. Jameson meinte, auch das Attentat gegen Schäuble sei in diesem Zusammenhang zu sehen. Er machte mich auf den Artikel von Rafic Boustani und Philippe Fargues aufmerksam: »Entre Golfe et Méditerranée« (Le Monde, 13.10.). Klientelisierung der arabischen Welt durch das Petrogeld der Golfregion. Die Ökonomie des arabischen Nahen Ostens, des »Mashrek«, dreht sich seither um die Verwaltung des Einkommens. Der kosmopolitischste Arbeitsmarkt der Welt. Auch darauf hatte Fred geachtet: der Artikel zeigt, dass beide viktimisierte Länder, der Libanon wie Kuweit, eine in der arabischen Welt beispiellos freie Presse gehabt hatten, die nunmehr ausgeschaltet ist. Der König war nackt: die Verschiebung des Gravitationszentrums des Mittelmeers an den Golf hat den Leuten nichts gebracht.
George Bush laut FJ »in freiem Fall«.
15. Oktober 1990 (2)
Mein Vortrag über Jeanskultur hat auf Aluna (vom Philosophie-Institut der moskauer Akademie der Wissenschaft) wie ein Werbespot gewirkt. Sie bekam Lust, stante pede in die Altstadt zu gehen und Jeans zu kaufen. Verlangen nach diesem Imaginären.
Merab sprach von der Unmittelbarkeit der Vergesellschaftung bei Marx, die der künstlichen Welt von Markt und Geld nicht bedürfen soll. Aber wie, fragte er, kommen wir dann in Kontakt mit den anderen?
*
Am Strand gehört, Gorbatschow habe den Nobelpreis erhalten. Merab gesteht zu, dass er diesen verdient habe. Michail Kusnezow, der an der Grenze zum Hanswurst agiert, mit ständigem Kopfnicken mich umdienernd, alle Worte mehrfach hervorstoßend, bis ihnen allmählich die Folgewörter anwachsen – zu G äußert er sich knapp und scharf: da sei keine Kontinuität, nie könne man wissen, was er als nächstes tun werde. »Muss man das?« wirft Merab ein. Er kehrt den Kyniker hervor. Meine Versuche, Herrschaft zu analysieren, buttert er in conditio humana und Gott unter. Wenn ich von einem bestimmten Nichtwissen spreche, wird er unweigerlich sagen: »Hat der Mensch je etwas gewusst?« Mittendrin erwähnt er Foucaults »fürchterlichen Tod« (an AIDS). Will sich ein Reise-Texterfassungsgerät (Sinclair) zu seinem Macintosh anschaffen.
Fred Jameson sagt, binnen 14 Tagen seien die USA zum Krieg bereit.
16. Oktober 1990
Iwailo Ditschew aus Sofia, auf dessen Visitenkarte kurz »Writer« steht und der die Mumakrum-Show mitaufgezogen hat: die »sozialistische« Gesellschaft lässt sich anders als die bürgerliche Gesellschaft mit ihren ausdifferenzierten Organisationen nicht von innen beschreiben.
*
Laut Washington Post hat man in Saudi-Arabien riesige zusätzliche Erdöllager entdeckt, die bis ins 22. Jahrhundert den derzeitigen Ausstoß garantieren sollen. Man hat diese Informationen angesichts der Golfkrise gerade jetzt herausgelassen, zusammen mit der Ankündigung verstärkter Lieferungen. Das wirkt unmittelbar aufs Ölpreisniveau, mittelbar auf die Interessen der Hauptölverbraucher am Ausgang des Golfkonflikts.
Schlanke Produktion. – James P. Womack, Daniel T. Jones & Daniel Roos: The Machine that Changed the World (New York 1991). MIT-Studie über Autoproduktion (1985–90). Überschrift des FAZ-Berichts: »Die in Japan entwickelte Produktionsweise wird die Welt erobern«. Verdrängung der »mass production« durch »lean production« (»lean« bedeutet mager, schlank, entschlackt). Die neue Produktionsweise brauche von fast allem weniger, zumal Arbeit, aber auch Zeit, Lagerbestände, Stückzahl zur Rentabilität. 90 Fabriken in 17 Ländern vergleichend untersucht mit dem Resultat, dass bei VW die Produktivität nur halb so hoch wie bei japanischen Spitzenbetrieben. Veränderte »Industrie-Organisation« als Ausdehnung des Polyzentrismus auf die Zulieferer, die tendenziell wie ein unabhängig arbeitendes Profitcenter im eigenen Verbund aufgefasst werden. Der Informationsaustausch mit ihnen wird »maximiert und nicht minimiert«. Die Zulieferer entwickeln oft die zugelieferten Teile relativ selbständig. Ferner werden horizontale Verbundsysteme (Keiretsu) aus Unternehmen vieler Branchen gebildet, die den Mitgliedern finanzielle Reserven, Sicherheit vor feindlichen Übernahmen, Innovations- und Rationalisierungsimpulse, überhaupt einen Ideenpool, sowie Synergie-Effekte vermitteln. Räumliche Nähe zum Endverbraucher macht es vorteilhaft, in jedem der drei großen Märkte (Nordamerika, Europa, Asien) eigenständige Produktionssysteme aufzubauen. Das verlangt eine »post-nationale« Unternehmenskultur mit Personaltransfer in allen Richtungen und globaler Produkt- und Finanzstrategie. Die Studie kommt zum Schluss, dass sich internationale Keiretsu-Verbünde und Zuliefer-Partnerschaften herausbilden werden. Der transnationale Kapitalismus nimmt Form an. Die Keiretsu modifizieren schon jetzt die Konkurrenz. Einiges an dem Modell könnte bei der Mafia abgeguckt sein.
17. Oktober 1990
Gestern Abend löste ich durch eine Nebenbemerkung einen thematischen Sprung aus. Karen Sjörup über Astrologie: Donnerstags bricht das Telefonnetz im Roskilde Universitetscenter zusammen, weil es im Horoskopdienst der Post die neuen Ansagen gibt.
Manchmal erscheinen die Lippen wie von innen ausgebissen; bitter und bissig erinnert der Mund an den der Schwarzer. Auf das Scheitern der ersten Frauenbewegung sei die unzufriedenste Frauenbewegung aller Zeiten gefolgt. Sie habe die Söhne als ihre Ersatzmänner behandelt, sie von den Vätern getrennt: Muttersöhne, deren Männlichkeit von Frauen geformt war. Die Töchter seien von ihren Müttern rausagitiert worden aus dem Frauen-(Mutter-)Universum: Bildungserwerb, Selbstverdienerin werden! Frei, ihre eignen Bilder davon zu machen, was eine Frau sein sollte. Verweist auf Dorothy Dinnerstein: The Minotaur and the Mermaid, über inneres Matriarchat in beiden Geschlechtern.
Der Muttersohn unterhalte keine Beziehungen zu anderen Männern, weil nie in Männlichkeit initiiert. Die Institutionen des Patriarchats zusammengebrochen. Nun werde sich ein neues postmodernes Patriarchat bilden.
Laut Slavoj Žižek wird das jugoslawische Imaginäre vom umgekehrten Nullsummenspiel beherrscht: Jede Nation glaube, dass sie in wenigen Jahren in einer Art Schweiz des Wohlstands leben könnte, würden die anderen Nationen ihr nichts wegnehmen.
Žižek in Blue Jeans und dunkelblauem Hemd; knapper gepflegter Vollbart; Schatten unter den Augen. Spricht mit leichtem Sprachfehler, das S gerät leicht zum Sch, dabei schnell wie ein Maschinengewehr, die locker gelassenen Backen und Lippen schüttelnd, immer am Rande des Kasperns, immer mit Witzen Überraschungsangriffe führend. Ich frage mich, an wen mich die Art erinnert, wie er den Kopf herumwirft. Sagt, er sei vor zehn Jahren als Nichtmarxist aus seinem Job geworfen worden, jetzt von derselben Amtsperson als Marxist. Sieht in Slowenien, seiner Heimat, eine neue moralische Mehrheit zurück auf dem Weg zum NS. Sieht das etwa darin angedeutet, dass letzte Woche der Kultusminister den Lehrerinnen das Tragen von Hosen verboten habe.