Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Название Jahrhundertwende
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548625



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Sozialdemokratie (PSOE) bei.

      Auf der Suche nach einem Motto für die nächste Volksuni: Rückwärts in die Zukunft. Oder: Verzweifelte Hoffnung Deutschland. Oder: Deutschland, Deutschland unter anderen.

      *

      Helmut Dubiel (»Die demokratische Frage«, in: Blätter, 4/90): Dem affirmativen Institutionalismus setzten die Linken Anti-Institutionalismus entgegen. So fehle es an Demokratietheorie. Jede Mediatisierung des »Willens des Volkes« werde von den Linken gewohnheitsmäßig abgelehnt. – Falsche Kategorie, rousseauistischer Zungenschlag in diesem doppelten Singular: der (eine) Wille des (einigen) Volkes, statt Cluster oder Assoziation oder wie immer von Willen der Bevölkerung. – Linke Staatstheorie sieht Dubiel »zwischen Herrschaftsdämonisierung und politischer Romantik« (411ff). Er trifft etwas, zum Beispiel auch beim Projekt Ideologie-Theorie. Aber er kippt dann doch zu sehr in die affirmative Grauzone (besser: rosa Zone).

      Claude Lefort bestimmt in Anlehnung an Hannah Ahrendt das »symbolische Dispositiv der Demokratie«: 1. radikaler Abbau transzendenter Rechtfertigung politischer Herrschaft, die vollends entzaubert wird; 2. »alle Themen zulässige Streitgegenstände im öffentlichen Diskurs« (das heißt in einem »sozial unabgeschlossenen Diskurs«); 3. Artikulation der realen Vielfalt muss möglich sein. Erst dann lässt sich von Zivilgesellschaft sprechen: »Assoziation von Bürgern, die sich nicht mehr als eine fest gegliederte, historisch abgeschlossene quasi körperhafte Einheit erfährt, sondern buchstäblich als ein zur Zukunft hin offenes ›politisches Projekt‹, das die Bedingungen seiner eigenen Programmierung ständig zur öffentlichen Disposition stellt.« (417f) Dubiel sieht diesen Impuls in der osteuropäischen Umwälzung am Werk. Terminologie: »nur ein Dispositiv« bedeutet bei ihm: »ermöglichende Struktur« (418). Dagegen steht »Flucht in vordemokratische Einheitssymbolisierungen wie ›Volk‹ oder ›Nation‹«.

      Was Dubiel nicht weiß (oder unterschlägt), ist die Tatsache, dass im Projekt eines »Pluralen Marxismus« seit einem guten Jahrzehnt solche Aspekte zunehmend deutlich in marxistisches Denken eingearbeitet werden, freilich eingebettet in eine viel komplexere Wirklichkeitsanalyse. Für ihn scheint Herrschaft vor allem ein Seminarthema.

      *

      Zivilgesellschaft. – »Zivile Gesellschaft« bestimmt Volker Gransow als »Entstaatlichung von Gesellschaft als Ziel und Prozess. Das bedeutet nicht ›Absterben des Staates‹, sondern einen staatlich garantierten Bereich individueller Freiheiten und autonomer Sozialbeziehungen.« (»Bocksprung in die Zivile Gesellschaft?«, in: Blätter …, 12/89) Merkwürdigerweise sieht er dergleichen schon bei Aristoteles. »Die Neudiskussion des von Aristoteles bis Gramsci bekannten Begriffs begann als Reaktion auf die entstehende autonome Organisation von Teilen der polnischen Gesellschaft um 1980. Es ist möglich, dass ›Zivile Gesellschaft‹ zum Schlüsselbegriff einer neuen Kritischen Theorie wird, weil hier wichtige Elemente sowohl der radikalen Demokratie wie des Sozialismus ›aufgehoben‹ werden.« (1443) Verweist auf Andrew Arato, »Civil Society, History & Socialism«, in: Praxis International, 1/2, 1989.

      23. Oktober 1990

      Die Jugendlichen aus der DDR stolzer, Deutsche zu sein, als die gleichaltrigen Westdeutschen.

      Mathias Schreiber (in der FAZ vom 19.10.) über die »Namensnot« beim Reden über das, was bislang DDR hieß. Dieses Zeichen, DDR, erklärt er für »ein eklig belastetes Stasi-Propagandakürzel«. So mimetisiert der feine Herr Ästhet eine Wut von unten. Manche sprechen jetzt von den »fünf neuen Bundesländern« oder einfach von den »fünf neuen Ländern«. »Ost-Deutschland« lehnt er ab, weil dieses Namenlose die Mitte sei. Die Bundespost nennt die DDR »VGO« (heißt das »Verwaltungs-Gebiet Ost«?), lässt aber sicherheitshalber auch »DDR« auf die Säcke schreiben. In unserem Reichelt-Supermarkt hängen Schilder an den Kassen, die einem mitteilen, dass DDR-Münzen bis 50 Pfennig »nur in der DDR gelten«, daraus entnehme ich, dass es, wo’s ums Geld geht, die DDR noch gibt.

      In der Hauptstadtfrage droht der FAZ-Herausgeber Fack den Berlinern an, falls sie wieder mehrheitlich rot-grün wählen, »wird Bonn das Rennen machen« (19.10.).

      In Moskau stellte vergangene Woche Abel Aganbegjan Gorbatschows Wirtschaftsprogramm vor. G sei tatsächlich »der Hauptautor des Dokumentes«; er habe mehrere Tage daran gearbeitet, und »jeder Punkt wurde mit ihm abgesprochen«. Laut TASS ist es nun klar: »Es wird keinen Kapitalismus in der UdSSR geben.« Die einzelnen Republiken sollen über das Tempo der Durchführung entscheiden sowie über »Sein oder Nichtsein« des Privateigentums an Boden.

      Die Hass-Reaktion habe ich ja in Dubrovnik zu spüren bekommen, etwa aus dem Munde von Valerij Podoroga. In Moskau gründete sich jetzt eine »Demokratische Union« als antisozialistische Sammlungsbewegung.

      Bourgeoise Ausbeutungskritik. – Nach dem Sturz des ›realsozialistischen‹ Sicherheitsstaats eröffnet Ernst-Otto Maetzke in der FAZ (19.10.) eine neue Front, die er, den Sozialismus beerbend, als Front des Kampfes gegen Ausbeutung artikuliert: »Nicht mehr die Herrschenden saugen den Bürger aus, […] sondern die Bürger erwürgen den Staat mit Ansprüchen.« Diese Gefahr malt er als tödlich: »Der realexistierende Sozialismus ist untergegangen; die realexistierende Demokratie ist nicht davor gefeit«. Anlass für das Alarmgeschrei ist, dass die Reichen mehr Steuern zahlen sollen. Die Haushaltskrise in den USA und der Generalstreik in Griechenland dienen als Demonstrationsobjekte.

      *

      Nicht vergessen: Die Zensurgeschichte, die mir Wladimir in Dubrovnik erzählt hat. Als er die Fernseh-Diskussion »Marx-Lenin-Gorbatschow« übersetzt hatte, veranlasste Frolow die Streichung eines einzigen Satzes, und zwar einer Äußerung von mir: Als Nelly Motroschilowa mir vorgehalten hatte, es sei schade, dass ich die sowjetische Philosophie-Literatur in den »Woprossy« nicht verfolgt habe, sagte ich: »Das war, als müsste man in einem Heuhaufen nach einer Stecknadel suchen.« Anscheinend fühlte er sich mit-gemeint.

      25. Oktober 1990 – Flug nach München

      Die PAN-AM, der Quasimonopolist im Westberlin-Flugverkehr einer ganzen Epoche, kapituliert vor der Lufthansa, und das Witzige ist, dass das zusammenhängt mit der Kapitulation der DDR vor der Bundesrepublik.

      Seit dem Ende des Kalten Krieges (der Systemkonkurrenz) führen die USA Kriege in Granada, Libyen, Irak – alles unbotmäßige Drittweltländer.

      Peter Glotzens Kommentar, als Achim ihm bei der Frankfurter Buchmesse mein Perestrojka-Journal in die Hand gedrückt hatte und er den Titel (Versuch, beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen) gelesen hatte: »Das macht der Haug doch seit dreißig Jahren.«

      Merkwürdig, dass es in München wie in Berlin kaum Hochhäuser gibt, was doch heute die meisten Drittweltstädte haben. Vielleicht hängt das mit der größeren Solidität des deutschen Kapitalismus zusammen, wie ein Gleichnis für breite Bodenständigkeit.

      26. Oktober 1990 – Abflug von München

      Im Pschorr-Keller auf Einladung eines Bildungskreises aus dem DKPUmfeld aus dem Perestrojka-Journal gelesen. Es lief nicht schlecht, obwohl die Diskussion zur politischen Diskussion wurde. Nur Horst Holzer, bis zur Ruben-Affäre im Umkreis Buhrs, schien zu verstehen, dass nicht allein theoretische These und politischer Leitartikel unserer derzeitigen Situation angemessen sind, sondern dass auch ins Traumhafte übergehende Beschreibungen eine unentbehrliche Möglichkeit bieten, gewisse »Zwischenlagen« auszudrücken. Holzer lebt übrigens seit Jahren von Medienforschung für den Bayrischen Rundfunk. Aus der akademischen Lehre ist er längst ausgeschieden. Als Gegenleistung für sein freiwilliges Verlassen der Universität verzichtete der Staat auf die Rückforderung von zehn Jahren Gehalt.

      Meine Gastgeber Brigitte und Leo Mayer wohnen in einem Siedlungsvorort des münchener Ostens, umschlossen von Industrie- und Gewerbegebieten. Das Haus ein Schmuckkästchen. Ich frage mich, wer es sauber hält. Brigitte ist Buchhalterin in einer kleinen Druckerei, Leo Ingenieur bei Siemens. Die Kinder schon außer Haus. Ich schlief im Zimmer