Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Название Jahrhundertwende
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548625



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zu haben«, eine Selbsttäuschung. Es ist vielleicht doch das Ende einer vormundschaftlichen Imagination, was Du mit derart gemischten Gefühlen nur halbklar registrierst. Nicht dass es keine Hoffnungen und Ziele gäbe, um die jetzt gebangt werden muss. In jenem Imaginären steckt auch unendlich Wertvolles und hoffentlich irgendwann einmal Zukunftsfähiges, das jetzt unterschiedslos niedergemacht werden soll. Um es zu retten, müssen wir es aber kritisieren und ins Illusionslose übersetzen. Momentan fürchte ich mich vor der Rückblickshaltung, die Dein Brief ausdrückt, weil sie erwarten lässt, dass Dich so die einzig wirkliche Zukunft gleichsam von hinten ereilt. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass diese Rückwärtsgewandtheit bei vielen nur ein kurzes Durchgangsstadium ist, um sich später desto rückhaltloser nach der neuen Decke zu strecken. – Es geht mir mit diesen Andeutungen nicht um Altersweisheiten, wie Du als jemand, die noch in der Straße der Jugend wohnt, annehmen magst: sondern um die Verteidigung einer Hoffnung, die ich in Dich und Deinesgleichen setze. Bitte schreibe, wie es Dir weiter ergeht, und schau mal wieder vorbei. Ich schicke Dir mit gleicher Post mein »Perestrojka-Journal«, von dem ich vermutlich erzählt habe. Bin neugierig zu erfahren, was Dir daran fremd ist und ob es etwas gibt, wo unsere Welten zusammenhängen.

      7. Oktober 1990

      Sibylle Haberditzl schreibt zum Perestrojka-Journal: »Ich habe heut Nacht bis 1/2 vier Uhr früh in Deinem Journal gelesen und möchte Dir für Deine Arbeit und Ungeschminktheit danken. Viele Einzelheiten sind da wie Eislers Fliege in Bernstein aufbewahrt, sehr bewegend und nützlich. Ein Meisterstück Deine und Friggas Aufzeichnungen aus Moskau. – Die Silvesterfeier mit den Eisler-Liedern7 war übrigens erst 1969/70 – also noch zwei Jahre länger war Eisler hier unbekannt.«

      *

      Schewardnadse auf der 45. UNO-Vollversammlung: Das Ende des Kalten Krieges ermöglicht die Renaissance der UNO. Ein »Lichtjahr« Entfernung zurückgelegt seit 1989. Die Zwangsmaßnahmen gegen den Irak artikuliert er als Ausdruck des Neuen Denkens mit seiner Dominanz gesamtmenschlicher Interessen. Seine Aussagen beschreiben aber natürlich keinen Zustand, sondern ein Seinsollen, eine Bestrebung, die hegemonial werden soll: »Von nun an ist die Weltgemeinschaft gewillt, nach einheitlichen Normen zu handeln.« Daraus folgt: »Dass der Rüstungsstand eines Landes nicht sein ausschließliches Recht und seine Prärogative sein, dass ihm in dieser Hinsicht nicht freie Hand gelassen werden darf.« Die UNO soll mit militärischer Exekutive ausgestattet werden. – Schewardnadse sieht die Gefahr, dass auf den Eisernen Vorhang der Elendsvorhang zwischen Norden und Süden folgt. Die UNO soll sich gegen wissenschaftlich-technischen Monopolismus einsetzen.

      In der FAZ vom 15.9.90 berichtet Walter Haubrich über die von Octavio Paz organisierte Intellektuellenkonferenz, von der mir Bolívar Echeverría erzählt hat. »Semprun konstatierte erfreut das Verschwinden des Parteien und Regierungen eng verbundenen ›organischen‹ Intellektuellen, der er selbst ja als Mitglied des Politbüros der KP Spaniens gewesen war, und meinte, die westliche Linke habe die Dissidenten in Osteuropa nicht genügend unterstützt. Die Marktwirtschaft […] habe endgültig [!] ihre Überlegenheit bewiesen, und die Geschichte habe gezeigt, dass die Arbeiterklasse nicht die Gesellschaft führen könne. Als ›organische‹ Intellektuelle im Sinne Sempruns wurden […] auch Heidegger und Lukács wegen ihrer Unterstützung totalitärer Diktaturen kritisiert. Dagegen pries der ungarische Philosoph Ferenc Feher [in der FAZ: Seher] den tschechoslowakischen Präsidenten Vaclav Hável als Beispiel eines ›unorganischen, aktiven, post-machiavellistischen Intellektuellen‹.«

      Hans-Christoph Rauh, der mich noch vor kurzem (1988?), als das in seinem Land noch einer üblen Nachrede gleichkam, zum Postmarxisten machte, ist jetzt Postmarxist.

      9. Oktober 1990, Flug nach Stuttgart

      Die Mauer aus der Luft – nur mehr eine Schneise in der Landschaft, eine Straße vielleicht; ich meine schon zu sehen, wie sich diese Verletzung der Landschaft wieder schließt, allenfalls Narben hinterlassend, wie einmal der römische Limes.

      Die bisherige Weltordnung des Ost-West-Antagonismus definierte für unsere Mächtigen übermächtige Zwänge, auf die sie Rücksicht zu nehmen hatten. Wer zu den Herrschenden antagonistisch stand, konnte sich gleichsam an jene Struktur anlehnen. Für die Bundesrepublik hieß das: das Deutsch-Nationale war durchkreuzt. Jetzt ist diese Blockierung weg; wir sind mit unseren Herren und unseren politischen Antagonismen allein.

      *

      Analysiert man die Gemengelage der Motivationen genau, zeigt sich, dass viele heimlich der Diktatur nachweinen. Mein Journal ein Probemedium, damit der Umbau nachvollziehbar, Treue im Verrat.

      9. Oktober 1990 (2)

      Vom Flughafen zu Theo Bergmann. Er ist Spitzenkandidat der Linken Liste/PDS. Finde ihn vom Laster der Politiker eingeholt: ruppig-schnelle Urteile, schwach im Zuhören.

      Lesung aus dem Perestrojka-Journal in Stuttgart: Wendelin Niedlich, dieser Glücksfall eines Buchhändlers, fand mich zu romantisch. Die Träume zu sehr im Vordergrund.

      10. Oktober 1990

      Als es meiner Mutter schlecht ging, sah in einem Sessel ihre Mutter, im anderen mein Vater. Die Toten stehen ihr bei. Ihre Toten.

      *

      Abends, als ich durch Stuttgarts Innenstadt der Buchhandlung Niedlich zustrebe, meine ich zu sehen, dass diese multinationale Straßenbevölkerung das Proletariat von heute sei.

      In der Diskussion wendet sich jemand gegen »das Gerede von der Revolution« in der DDR: kein anderes Volk könnte seine Regierung durch Davonlaufen erpressen.

      Der Taxifahrer gegen Rommel (den Oberbürgermeister), weil der Ausländer ins Mietshaus reingesetzt habe. Irrsinnige Geschichten, wohlgehütetes Imaginäres, um den Hass gegen »die Ausländer« zu hegen: Muslime, die mitten auf der Treppe oder mitten auf der Straße vor seinem Auto, »im Dreck!«, wenn er es eilig hat, ihren Gebetsteppich ausbreiten und »zum Neckar« – so übersetzt er Mekka – hin beten. – Die Ausländerfrage = das Auseinander der Arbeiterklasse.

      Derselbe Taxist, unermüdlich gesprächig, hatte eine merkwürdige Mischung aus potenziell kritischem Wissen und Entschärfungen der Kritik auf Lager. Von verfälschten Lebensmitteln und dass es noch keinem geschadet habe und so. Hengstenbergs angebliches Filderkraut, das aus Jugoslawien stammt. Er ist Ostpreuße, aus Allenstein; seine Kinder und Enkel lernen und kultivieren angeblich den ostpreußischen Dialekt, sozusagen als Zweitdialekt neben dem Schwäbischen, das ihre wirkliche Heimatsprache ist.

      *

      Was wir vom »Argument« nicht geschafft haben, das hat »Niemandsland« geschafft: die Fusion mit einer der DDR-Neugründungen.

      *

      Meine Mutter schwankt. Mal wollen ihre Toten sie zu sich holen, mal stehen sie ihr bei. Ich versuche, sie darin zu bestärken, dass sie ihr beistehen.

      Die Tränen meiner Mutter. Jetzt, im Zug, die meinen. Ob wir uns noch einmal sehen, fragte sie.

      11. Oktober 1990

      Leere Säle in Stuttgart und Ulm, wo ich aus dem Perestrojka-Journal vorlesen soll. Das Thema tot. Der Wind bläst mir ins Gesicht. In Ulm, in der kalten, lauten ehemaligen Fabrikhalle des Roxy 20 Leute, darunter zwei »Groupies«, ein von vorneherein Abgeneigter, der bald geräuschvoll geht, ein Ex-Maoist, alles immer schon besserwissend, ein Verdrehter, dem man die wie auch immer bewirkte Zerstörung seiner Vernunft nicht ansieht. In Stuttgart, bei Wendelin Niedlich, waren es nur sieben, dafür ausnahmslos gute Gesichter.

      12. Oktober 1990, Dubrovnik, Inter-University-Center

       West-östliches Seminar über Ästhetik und Politik

      Valeri Podoroga über Eisensteins Gewalt-Ästhetik, die er sehr »russisch«, aber merkwürdigerweise mit Foucault (Überwachen und Strafen) artikuliert, vorführt. Aus Eisensteins »Streik«: Schlachthausszene