Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Bis zur körperlichen Attacke soll André Brie, gegen den »Revisionismus« seines Vaters wütend, gegangen sein. Ehedem Kampfgruppenführer. Michael erwähnte es, als ich von den bitter herabgezogenen Mundwinkeln seines Bruders sprach.
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Unendlich schwierig und sehr notwendig, gerade jetzt als Linker die Widersprüchlichkeit der Situation zu denken. Von Eckart Spoo einen Rundbrief, worin er einseitig richtige Äußerungen von Steinkühler zitiert, die er entgegengesetzt einseitig richtig kritisiert. – Steinkühler schreibt in Metall, die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober biete der Menschheit »eine neue, vielleicht sogar eine allerletzte Chance«. – Spoo: »Gesamtdeutschland als letzte Chance der Menschheit? Geht es nicht eine Nummer kleiner?« – Steinkühler näher an der Wahrheit. Jetzt ist Weltinnenpolitik möglich geworden, ohne dass im mindesten sicher wäre, dass wir nicht nur westlichen Imperialismus-der-Sieger bekommen. Aber die deutsche Vereinigung ist ja nur Ausdruck einer globalen Änderung, die der Menschheit tatsächlich eine letzte Bewährungsprobe einräumt.
2. Oktober 1990
Tengelmann inseriert in der FAZ ganzseitig: »Wir freuen uns auf Deutschland«. Dto. die Dresdner Bank: »Mit dem 3. Oktober beginnt für uns und für alle Deutschen der Aufbruch in eine neue Zeit.«
Gestern Abend mit Michael Brie im »Haus des Welthandels« an der Friedrichstraße: im Erdgeschoß bereits Kaisers Kaffeegeschäft von Tengelmann eingezogen.
Verliererseite: Die PDS hat aus Furcht vor Terroranschlägen ihre für heute Abend geplante Großkundgebung abgesagt. – Siegerseite: Die FAZ hat zur Feier des Einheitstages den Umbruch verändert: Leitartikel quer über eine halbe Seite. Mehr denn je Regierungsblatt. Kohl füllt eine Seite mit Sätzen wie: Nun ist »der geistige Klammergriff der kommunistischen Ideologie beseitigt«. De Maizière fungiert nur in einem Inserat der Bundesbahn.
Ina Merkel gestern voller Unbehagen über das Unbehagen an Deutschland. Aber sie empfindet es selbst. Auch ich werde der Sache nicht froh. Die Machtverdichtung hier wird uns als Subjekte hinterrücks mitverwandeln, weil sie die Art, in der wir als Deutsche in die Welt eingeschrieben sind, verändern wird. Für die anderen sind wir nun einmal Repräsentanten bzw. Partizipanten Deutschlands.
Pit Jehle bemerkte die systemische Intelligenz einer Staatsordnung, in der es mehrere Instanzen gibt, deren keine gänzlich kompetent ist. Selbst die Generalkompetenz der Zweidrittelmehrheit des Parlaments vielfach gebrochen. Jetzt das BVG-Urteil. U.a. hatte die »verabscheute« PDS zum ersten Mal das Verfassungsgericht angerufen und gleich Recht bekommen. Das ist eine bemerkenswerte Verfassungslektion, die da der PDS erteilt wird. Die Instanzen könnten einander freilich auch blockieren.
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Die enorme Erleichterung wird überlagert vom Eroberergestus der bundesdeutschen Herrschenden und Machthabenden. Mehrere Siege, die einander durchkreuzen. Obenauf die Kreuzzügler des »Privateigentums«, nein: des Kapitalismus.
Jens Jessen (FAZ, 29.9.): »Wiedervereinigung« = »Entmachtung einer ganzen Priesterkaste«. »Noch ehe den deutschen Intellektuellen mangelnde Unterstützung des Wiedervereinigungsprozesses vorgeworfen werden konnte, verstanden sie, dass der Vereinigungsprozess gegen sie gerichtet war.« F. K. Fromme ebenda über »das stille Zusammensinken der DDR«.
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Michael Brie hielt seine erste Vorlesung zu Luhmanns Artikel übers Ende der DDR. »Was lernen die Landtiere aus dem Verenden der Fische? Nichts!«
2. Oktober 1990 (2)
Im Gorki-Theater bei der Abschiedsvorstellung der DDR. Klaus Pierwoß, der als Dramaturg an dieses Theater gegangen ist, hat mich eingeladen. Die Schauspieler und Schriftsteller sitzen im Licht, eine stille Feierlichkeit des Saales auf sie gerichtet wie auf ein stellvertretendes Wir. Volker Braun liest die »Kolonie«, eine Kafka-Paraphrase vom Frühjahr 1989, die noch immer prophetisch wirkt, obwohl sie schon mehrfach veröffentlicht ist, darunter auch im Argument. Ich registriere diesen Unterschied unserer Textproduktionen, dass diese Wirkung mir verwehrt ist. Ich muss meine schwitzende Unvollkommenheit beim möglichst klaren Sagen immer wieder neu anstrengen.
Volker, klassisch: »Ich bleibe hier, mein Land geht in den Westen …«. Ein anderer liest von Thomas Brasch: »Bleiben will ich, wo ich niemals war …« Biermann: »Das bisherige Stück ist aus. Nun habe ich endlich nicht mehr Recht.« Heißt: Recht gegen seinesgleichen. Und Heiner Müller: »Dies ist eine Zeit, in der man die Lehren vergraben muss, so tief, dass die Hunde nicht rankommen.«
Nicht mehr Recht haben gegen Mächtige, die sich auf dieselbe Tradition wie wir berufen. Jetzt predigen wir, ganz normal, den Fischen. Jetzt haben wir »Recht« gegen Mechanismen.
Nach der Pause muss ich aufs Diskussionspodium. Wenn vorher Feierlichkeit die literarische Nostalgie entgegennahm, so lässt der Saal nun den Hund raus nach einem Zwischenruf, warum keine Frauen auf dem Podium. Lasse mich von Pierwoß, der das zu verantworten hat, in den sicheren Untergang schicken. Analyseversuche gehen im Lärm unter. Ich habe kein Glück bei meinen öffentlichen Auftritten in der DDR. Das Gefühl, hier nichts zu suchen zu haben. Ursula Werner, die man schließlich zur Ausfüllung der Frauenrolle aufs Podium geholt hat: »Wenn uns jetzt die Gesellschaft der Warenproduktion überrollt …«, und Langhoff sieht die Zahnärzte und Gynäkologen mit ihren brillantenbehängten Damen das Theater besetzen. Als Lyrik die Nostalgie peinlich, als politische Meinung unerträglich. Neben mir Frank Castorf, der an der Volksbühne Aufsehen erregt hat mit seiner Inszenierung der Räuber. Für ihn ist die Bombe (werfen) das politische Ding an sich, von dem abgebracht zu werden die Kunst freisetzt.
Ich versuche, etwas über den Funktionswandel des Theaters nach der Freisetzung der Öffentlichkeit zu sagen. Vor allem versuche ich, die Zweideutigkeit der Situation in Worte zu fassen, die Überlagerung von Erleichterung und Bedrückung. Einerseits eine Befreiung; dem Zensurstaat nicht nachzuweinen. Andrerseits kommt die Emanzipation als Unterordnung. Aber nicht zu leugnen, dass der Bundesrepublik auch eine eigne Dignität zugewachsen ist. Unglück, wenn die Intellektuellen drinnen jammern, während das Volk draußen feiert. Wir sind getrennt von der Freude des Volkes. Das ist ein Unglück. Auf dem Podium nimmt keiner den Faden auf. Nur aus dem Publikum erhalte ich Schützenhilfe von Claus-Henning Bachmann, der über die Volksuni als Versuch, Intellektuelle und Volk zusammenzubringen, spricht und an seine Prägung vom »wissenschaftlichen Volksfest« erinnert.
3. Oktober 1990
Als es auf Mitternacht zuging, schoben Anneli, Arne (die Tochter) und Volker Braun und ich uns mit der, durch die, gegen die Menge dem Brandenburger Tor entgegen, das wir aber nicht erreichten. Die Straße Unter den Linden war mit einer Million zertretener Plastikbecher und unzähligen leeren Flaschen und Dosen bedeckt.
In unvorstellbarem Gedränge erreichte ich den Bahnsteig, quetschte mich in einen total überfüllten Zug, der an ebenso überfüllten Bahnsteigen vorbei zum Zoo fuhr.
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Mathias Schreiber zieht (in der FAZ vom 29.9.) über Lafontaine her, weil dieser »übereilt die gerade mühsam erworbene Einheit-in-Freiheit an das ›Europäische‹ abtreten möchte«. Führt einen ungenannten SPDler vor, weil dieser der DDR empfohlen haben soll, es doch eher mit Österreich zu probieren. Lafontaines Bemerkung, auch Gesamtdeutschland sei ein Provisorium, weil ja Europa konstituiert werden müsse, kontert er im Carl-Schmitt-Ton: »Die Taktlosigkeit solcher Witzeleien entspricht der Unangemessenheit provisorischen Verhaltens in entscheidenden Situationen.« Das erste Mal, dass ich in der FAZ Kursivdruck gesehen habe. Selbst typographisch herrscht der Ausnahmezustand.
Morgan Stanley rechnet damit, dass in Deutschland die Zinsen auf über 10 Prozent steigen, woanders noch höher, weil aus der BRD wegen der Ostinvestitionen enorm viel weniger